Porträt des Verhandlungspartners als alter Kriegsherr

Debattenbeitrag

Im Angesicht der massiven Gewalt in der Ukraine die Hoffnung auf Verhandlungen nicht aufzugeben, ist richtig. Aber die an die Ukraine gerichtete Forderung, so schnell wie möglich den Weg zum Verhandlungstisch zu suchen, macht es sich zu einfach. Denn mit Blick auf das Agieren der russischen Seite bleibt es schwierig, eine Antwort auf die Frage zu finden, was „verhandeln“ mit diesem Gegenüber eigentlich heißen könnte.

Eine Kollage aus zwei Bildern, die mit einem weißen senkrechten Strich getrennt sind. Links ist der Umriss der Ukraine in gelb und blau auf dunklem Hintergrund. Rechts ist ein Foto von dem Autoren Emanuel Herold.

Über den Offenen Brief einiger deutscher Wissenschaftler*innen, Autor*innen und Künstler*innen an Bundeskanzler Scholz wird weiter munter diskutiert. Ukrainer*innen in der Ukraine und in Deutschland nehmen jenen Brief und die daraus folgende Debatte mit Befremden wahr. Neben der Positionierung gegen die Lieferung schwerer Waffen aus Sorge um eine nukleare Eskalation ist aus ukrainischer Sicht besonders irritierend, dass Unterzeichner*innen – die deutsche und die ukrainische Regierung adressierend – wiederholt davon sprechen, „dass man »immer mehr über Waffen und zu wenig über Verhandlungen redet«, ohne konkret zu sagen, wie diese Verhandlungen denn aussehen sollten.“

Nun kann man die Frage danach, wie denn diese Verhandlungen oder gar ein „Kompromiss“ zwischen der russischen und ukrainischen Seite aussehen könnte, durchaus mit plausiblen Gründen zurückweisen – er sei nicht in der Position, zu sagen, was als mögliches Ergebnis ausgehandelt werden solle, sagte etwa Harald Welzer in einem Interview mit der taz. Er ließ sich allerdings folgende Vermutung entlocken: „Das muss sich nach Maßgabe der Machtverhältnisse dann irgendwie konturieren.“ Dieses Verständnis von Kompromissfindung verdient genauere Betrachtung, denn es lädt dazu ein, vor dem Hintergrund der konkreten Entwicklungen in der Ukraine interpretiert zu werden. Dann wird man aber feststellen müssen, dass es zu Form und Inhalt möglicher Verhandlungen derzeit leider nicht viel zu sagen gibt – was das Insistieren auf Verhandlungen nur umso selbstbezüglicher erscheinen lässt.

Blicken wir nach Cherson, einer Hafenstadt im Süden der Ukraine, nahe der Krim. Cherson wurde international bekannt, weil die Stadt von den russischen Truppen nach Kriegsbeginn zwar schnell eingenommen wurde, die Zivilbevölkerung jedoch im Anschluss anhaltend mit offenen Protesten den Abzug der Besatzer forderte. Obwohl mittlerweile die Hälfte der Bevölkerung vor der Gewalt der russischen Soldaten geflüchtet ist, haben die Besatzer weiterhin Probleme, die Kontrolle über die Stadt zu behalten, nicht zuletzt, da es an willigen Kollaborateuren fehlt.

Der russische Versuch einer Annexion wird damit erheblich verzögert, aber wohl leider kaum verhindert: Ende April gelang es den russischen Truppen, die Verwaltungsgebäude der Stadt einzunehmen und den Bürgermeister sowie den Gouverneur der Provinz durch prorussische Politiker zu ersetzen. Kurz darauf wurde bekannt, dass die neue russische „Verwaltung“ plant, in der besetzten Stadt den Rubel als Zahlungsmittel einzuführen. Wenige Tage später wurde gemeldet, dass die russischen Truppen die Internetanbindung der Stadt auf russische Server umgeleitet haben.

Einen solchen Prozess muss man als das bezeichnen, was er ist, nämlich eine politische Säuberung. Die ehemalige Beraterin des abgesetzten Präsidenten der angrenzenden Krim, Tamila Taschewa, erkennt darin das gleiche Vorgehen wie bei der Krim-Annexion 2014: „Erst kamen die russischen Militärs, dann wurden alle ukrainischen Informationsquellen abgeschaltet, dann wurden Menschen, die führend im Widerstand gegen Russland auftraten, verschleppt, und dann wurde ein sogenanntes Referendum abgehalten.“

In der vergangenen Woche hat der Vizechef der russischen Militär- und Zivilverwaltung von Cherson, Kirill Stremoussow, bezüglich des letzten Schrittes tatsächlich Klarheit geschaffen: Da das Referendum auf der Krim „ohnehin nicht international anerkannt“ worden sei, wolle man nun in Cherson keines abhalten und auch keine Volksrepublik gründen, sondern direkt in Moskau ein formelles Beitrittsgesuch zur Russischen Föderation stellen. Damit einhergehend wurde die Ausgabe russischer Pässe angekündigt – ein Schritt, der Russlands neoimperiale Politik der „Passportisierung“ fortsetzt, die zuletzt im Donbass Anwendung fand. Damit auch keine Missverständnisse auftreten und die Bearbeitung des Beitrittsgesuchs versehentlich als ergebnisoffenes Verfahren aufgefasst wird, konstatierte der Generalsekretär von Putins Partei „Einiges Russland“, Andrej Turtschak, bei einem Besuch in Cherson am 6. Mai: „Hier ist jetzt für immer Russland.“

Ich möchte an dieser Stelle annehmen, dass die Minimalbedingung zur Herstellung einer Verhandlungssituation darin besteht, dass nicht schon vorher alles geklärt ist. Um auf Welzers Formulierung zurückzukommen: Die Machtverhältnisse, welche die russischen Besatzer in den besetzten Gebieten etablieren, wirken in der Tat sehr stark… „konturierend“. Deutlich gesagt: Es wird mit aller Gewalt versucht, Fakten zu geschaffen. Mit einem Deal, Kompromiss oder Verhandlungen hat das nichts zu tun. Es liegt allein an der vom Westen gestützten militärischen Gegenwehr der Ukraine, dass die Menschen im benachbarten Odessa oder in Saporischja noch nicht in der selben Lage sind – beziehungsweise ihre Städte noch nicht aussehen wie Mariupol.

Erstaunlich ist bei den Einlassungen der Unterzeichner*innen des Offenen Briefs zudem, dass völlig vergessen scheint, dass bereits verhandelt wurde. Die ukrainische Regierung war z.B. bereit, einen Vertrag über einen Neutralitätsstatus ihres Landes auf den Tisch zu legen. Das war im März – zu einem Zeitpunkt als einige internationale Regierungschefs noch hofften, in Gesprächen mit dem Kreml eine vermittelnde Rolle einzunehmen, u.a. Israels Premier Bennett.

In folgenden Wochen wurde dieser diplomatischen Konstellation jedoch nachhaltig der Boden entzogen: Zunächst startete Russland Mitte April seine Großoffensive im Osten und Süden der Ukraine. Strategisch eingeordnet wurden die seither wütenden Kämpfe sodann vom russischen Generalmajor Rustam Minnekajew, der den „Zugang zu Transnistrien“ als Ziel der Offensiven benannte. Anfang Mai wurde dann Bennetts denkbare Vermittlungsposition durch die antisemitische Hetze des russischen Außenministers Lawrow vorerst unmöglich gemacht. Nahezu zeitgleich wurde überdies die Hauptstadt Kiew erneut bombardiert – und zwar während sich UN-Generalsekretär Guterres dort aufhielt.

Bemerkenswerterweise kommen Welzer, Schwarzer, Yogeshwar & Co nicht auf Idee, dezidiert eine Wiederaufnahme der Verhandlungen zu fordern. Das würde eine Analyse verlangen, warum die schon gestarteten Verhandlungen zum Erliegen gekommen sind. Neben einer kritischen Würdigung der kontraproduktiven Regime-Change-Rhetorik der US-Regierung müsste das vor allem in ein paar Worte zur Einschätzung eines möglichen russischen Interesses an einer echten diplomatischen Lösung münden. Dafür müsste man aber u.a. auch über das Geschehen in der Ukraine hinausblicken und wahrnehmen, dass Russlands Revisionismus verschiedene Regionen des postsowjetischen Raums – etwa in Georgien – akut destabilisiert. Von derlei Betrachtungen ist aber wenig zu vernehmen.

Vielleicht wird in der deutschen Politik und weiten Teilen der Öffentlichkeit also nicht etwa „wenig über Verhandlungen geredet“, weil allerorten eine fahrlässige Kriegseuphorie um sich greift. Stattdessen lässt eine kontinuierliche Reihe von Entscheidungen der russischen Seite keinerlei Ansatzpunkte für so etwas wie Verhandlungen erkennen. Vor dem Hintergrund des Vorgehens der russischen Armee in der Ukraine und des Vorgehens der russischen Regierung auf der internationalen Bühne weiterhin wortreich Verhandlungen einzufordern, mag von berechtigten Sorgen um eine Eskalation des Kriegs getragen sein. Es ist mit dem abstrakten Rekurs auf „universelle Normen“ allerdings hochgradig wohlfeil und in der politischen sowie militärischen Einordnung des Konfliktverlaufs schockierend ignorant.

Zur Kenntnis zu nehmen wäre demgegenüber, dass der ukrainische Präsident Selensky trotz der jüngsten Vorbereitungen zur Annexion von Cherson die Tür für Verhandlungen noch immer offen lässt: „Wir sind bereit, diese Verhandlungen fortzusetzen, bevor es zu spät ist. Aber mit jedem neuen Butscha, mit jedem neuen Mariupol, mit jeder neuen Stadt, in der Dutzende von Menschen getötet und vergewaltigt wurden, mit jedem neuen Fall von Gräueltaten schwindet der Wunsch und die Fähigkeit zu verhandeln, ebenso wie die Fähigkeit, dieses Problem diplomatisch zu lösen.“ Für jene prominente Stimmen, die derzeit die Botschaften des Offenen Briefs mit viel Engagement vertreten, wäre daher zu erwägen, endlich den Adressaten des Verhandlungswunschs zu wechseln und ihre Appelle an Russlands Führung zu richten – sofern sie denn tatsächlich an deren Verhandlungsbereitschaft glauben.