Die Krisenerfahrungen der anderen ernst nehmen!

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Auf die Zuspitzung der politischen Lage in Italien und damit verbundene Gefahren aufmerksam zu machen, hat nichts mit Pathos oder Panik zu tun. Über diese Zusammenhänge hinwegzugehen, allerdings mit Fahrlässigkeit. Eine Antwort auf Hermann Kuhn.

italienische Flagge im Wind

In seiner Reaktion auf meinen Beitrag zur laufenden Corona-Bond-Debatte hält Hermann Kuhn ein Plädoyer für eine Politik des pragmatischen Kompromisses. Allerdings gehen seine Argumente in weiten Teilen an meinen Ausführungen vorbei, in denen ich darstelle, wie bestimmte politische Kräfte diese Art der Politik in Italien seit Jahren systematisch entwerten und verunmöglichen. Diese bedauerliche Tatsache hat Rückwirkungen auf die politische Handlungsfähigkeit der Regierung Conte und damit auf die Kompromissfindung auf europäischer Ebene. Auf diesen Zusammenhang möchte sich Hermann Kuhn allerdings nicht einlassen.

Das mag auch daran liegen, dass er meine Argumentation mit anderen grünen Stellungnahmen vermengt. So wundere ich mich, dass meine Thesen gemeinsam mit bestimmten Aussagen von Sven Giegold abgehandelt werden, die ich selber weder angeführt habe noch teile. Im Gegenteil finden sich in meinen Text einige der Punkte, die Kuhn überzeugend gegen Giegold ins Feld führt.

Darüber hinaus wird mein Beitrag in eine Debatte „vieler Grüner“ (?) eingeordnet. In der Folge werden mir Positionen untergeschoben, allen voran: Das Geringschätzen und Kleinreden des beschlossenen 540-Mrd.-Euro-Maßnahmenspakets, welches Kuhn anderswo beobachtet. Mein Ausgangspunkt ist dagegen: Es erscheint rätselhaft, dass die italienische Regierung die günstigen ESM-Kredite des umfangreichen Pakets nicht annimmt, obwohl das Land diese Unterstützung dringend braucht. Mein Enträtselungsversuch besteht nicht in einer ökonomischen Kritik am Paket (seinem Umfang o.ä.), sondern einer Analyse der innenpolitischen Lage Italiens, in der aus einem europäischen Kompromiss politischer Sprengstoff wird.

Damit wären wir beim Kern der Sache, den Hermann Kuhn nicht für den Kern der Sache hält: Die Dynamik zwischen den verschiedenen politischen Kräften in Italien. Er hat recht mit dem Hinweis, dass die europäischen Entscheidungen in der aktuellen wie auch in anderen Krisen immer innenpolitische Rückwirkungen in allen Mitgliedsstaaten haben. Es ist auch zutreffend, dass diese Rückwirkungen in genau entgegengesetzte Richtungen gehen können – was aktuell die italienische Rechte schwächen könnte, würde die Rechtspopulisten in den Niederlanden mit großer Wahrscheinlichkeit stärken. An dieser Stelle bricht Kuhns Darstellung der konkreten politischen Verhältnisse allerdings ab und verbleibt auf der Ebene des Prinzipiellen: Seiner Überzeugung, dass die Einpreisung innenpolitischer Dynamiken in der Suche nach europäischen Mehrheiten nicht zielführend ist.

Das würde ich grundsätzlich teilen. Es setzt allerdings voraus, dass diese innenpolitischen Konsequenzen wiederum nicht von massiver europäischer Tragweite sind. Aber ganz genau das ist in Italien mittlerweile der Fall: Wir haben es mit einem Land zu tun, in dem EU-feindliche Parteien bereits eine Regierung gestellt haben, als es der Wirtschaft noch halbwegs gut ging. Diese Parteien sind nun in der Lage, eine deutliche Mehrheit der Wähler hinter sich zu bringen. Lega, Fratelli d’Italia und 5-Sterne-Bewegung kommen in Umfragen seit Monaten auf rund 60% der Stimmen – es gibt Umverteilungen in diesem Lager, aber kaum eine Schwächung desselben. Das ist mit den hochgradig fragmentierten und weit weniger radikalisierten Verhältnissen in den Niederlanden nicht zu vergleichen. In Bezug auf mögliche innenpolitische Folgekosten in den Mitgliedsstaaten haben wir es also nicht mit einem Nullsummenspiel zu tun!

Es bleibt unklar, warum Hermann Kuhn nicht auf diese konkreten Umstände eingeht. Entweder teilt er meine Analyse der italienischen Innenpolitik nicht – dann müsste er ausführen, warum. Oder er teilt sie doch – und ist nicht bereit, den erheblichen politischen Risiken ins Auge zu sehen. Wenn die Regierung Conte demnächst die ESM-Kredite annehmen wird (ihr bleibt aufgrund der tiefen ökonomischen Krise im Lande nichts anderes übrig), dann wird das der mitregierenden 5-Sterne-Bewegung schaden. Davon profitiert vor allem Fratelli d’Italia. Ob die bestehende Koalition ein Umkippen der 5-Sterne in der ESM-Frage überlebt, ist also fraglich.

An dieser Stelle muss ich festhalten, dass Hermann Kuhn leider auch die Hauptthese meines Texts verkürzt: Ich habe nicht behauptet, dass die EU von einem Moment zum anderen zerfällt, wenn die Regierungschefs auf ihrem Gipfel die Corona-Bonds nicht beschließen. An wen daher seine Feststellung, „die Europäische Union ist nicht auseinandergefallen“, gerichtet ist, weiß ich nicht (Giegold? Andere Grüne?). Meine These war und ist, dass die Festlegung auf den ESM und die Ablehnung der Bonds bei den nächsten Wahlen in Italien den rechten Kräften eine Mehrheit verschaffen könnte – womit das, was wir bisher europäische Einigung nannten, mit hoher Wahrscheinlichkeit sein Ende nehmen würde.

Die Einsätze in diesem politischen Spiel habe nicht ich oder irgendwelche anderen Grünen derart erhöht, sondern Conte selbst. Der Regierungschef scheint fest davon auszugehen, dass er ohne Bonds über kurz oder lang seine Koalition verliert. Und das nicht ohne Grund: Die Dominanz rechter Untergangsnarrative gründet auch auf der Überlagerung mehrerer negativer Krisenerfahrungen. Der für Italien spezifische Verlauf der Corona-Krise – als erstes Land in Europa hart getroffen, seine wohlhabendste Region in kürzester Zeit kollabiert, wochenlang ohne Hilfe seitens der anderen EU-Staaten trotz offizieller Anfrage – ist ein Katalysator für aufgestaute Frustrationen und unterschwellige Ressentiments geworden. Nachdem die italienische Bevölkerung ambivalente Erfahrungen mit der Eurokrisenpolitik gemacht hatte und parallel dazu viele Jahre in der Flüchtlingspolitik im Mittelmeer weitgehend allein gelassen wurde, haben sich die anderen Mitgliedsstaaten beim Ausbruch der aktuellen Pandemie als das Gegenteil verlässlicher Partner gezeigt.

Diese Krisen folgen zwar chronologisch aufeinander, aber sie sind im kollektiven Bewusstsein nicht voneinander getrennt. Ich bleibe dabei: Wir müssen begreifen und ernst nehmen, was in Italien los ist. Es ist daher in meinen Augen völlig falsch, wenn Hermann Kuhn meint, dass „die europäische Integration schon ganz andere Krisen überstanden“ hat – zumal wir es mit der schwersten Pandemie seit der Spanischen Grippe zu tun haben und der größten Rezession seit dem Schwarzen Freitag!

Zuletzt: Warum eigentlich sollten Corona-Bonds kein guter europäischer Kompromiss sein? Führende deutsche und europäische Ökonomen hatten sehr deutlich für Corona-Bonds plädiert. Die große Mehrheit der Eurozonen-Staaten hatte erkannt, dass 2020 nicht 2011 ist, weswegen bspw. Belgien, Luxemburg, Irland oder Slowenien ihre Haltung zu Bonds geändert haben. Die Bundesregierung hat diese Gelegenheit verpasst. Der Preis für diesen – in Deutschland übrigens innenpolitisch bequemen – Weg könnte enorm sein.