Bonds or Bust

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Wenn Deutschland und die Niederlande im Streit um Corona-Bonds nicht einlenken, endet die europäische Einigung mit der nächsten italienischen Wahl.

Die Flagge der Europäischen Union im Wind

Am 10. April einigten sich die Regierungen der EU-Staaten auf ihrem Gipfeltreffen auf ein umfangreiches Maßnahmenpaket von bis zu 500 Mrd. €, um die ökonomischen Folgen der Corona-Krise abzufedern. Das Paket besteht aus einem Fonds der Europäischen Investitionsbank (EIB) für kleine und mittelständische Unternehmen, dem Kurzarbeiter-Programm "Sure" und den Kreditlinien des Euro-Rettungsschirms ESM für besonders stark von der Pandemie betroffene EU-Staaten.

Am 14. April verkündet die italienische Regierung, sie werde die 39 Mrd. €, die ihr aus dem ESM zustehen, nicht in Anspruch nehmen. Dabei bräuchte das ökonomisch verwüstete Land dringend Kredite, um der Krise mit öffentlichen Investitionsprogrammen zu begegnen. Stattdessen will sich die Regierung von Guiseppe Conte auf EU-Ebene weiter für Corona-Bonds einsetzen – also für genau jenes Instrument der befristeten gemeinsamen Schuldenaufnahme, dass am harten Widerstand aus Deutschland und den Niederlanden auf dem Gipfeltreffen abgelehnt wurde.

Rätselhaft: Eine Regierung, die etliche Milliarden an günstigen Krediten ausschlägt? Was ist das Problem am ESM? Was ist da los?

Zu meiner tiefen Enttäuschung breitet sich selbst unter Europafreunden das Erklärungsschema aus, die Italiener würden sich mal wieder verantwortungslos im parteipolitischen Taktieren verlieren und seien dreister Weise auf noch billigeres Geld aus. Das zeugt von großer Ignoranz.

An dieser Stelle könnte man nun lange ökonomische Aufklärungen ausbreiten zur Frage, was genau ESM oder Corona-Bonds sind, und mit Vokabeln wie „Altschulden“, „Schuldenquote“, „Primarüberschuss“, „Spreads“ oder „Transferunion“ um sich werfen, die typischerweise zu solchen Debatten gehören. Allerdings: Es ist in diesem Konflikt ein Punkt erreicht, an dem die ökonomischen Details politisch nachrangig werden. Das mag paradox klingen mit Blick auf die astronomischen Summen, von denen die Rede ist. Wer allerdings nur in ökonomischen Begriffen über die Frage „ESM vs. Corona-Bonds“ nachdenkt, versteht das Verhalten der italienischen Regierung nicht. Dazu ist ein Blick in die Lage der italienischen Innenpolitik erforderlich.

Es war schon vor dem vergangenen EU-Gipfel vermutet worden, dass die italienische Regierung auch nach einer Zustimmung zu einen soundso gearteten Gesamtpaket die ESM-Gelder nicht annehmen würde. Der ESM (kurz für: Europäischer Stabilitätsmechanismus) ist nicht einfach ein dickes Bankkonto, sondern eine aus der Eurokrise erwachsene Institution.

In der italienischen Öffentlichkeit ist der ESM zu einer Chiffre für Austerität und Fremdbestimmung geworden. Er wurde über die Jahre von EU-feindlichen Kräften erfolgreich als Instrument der Knechtung und Demütigung diffamiert – und das ist derzeit politisch entscheidend. Matteo Salvini von der rechten Lega zieht mit kruden Schlachtrufen wie "Kein ESM, wir sind Italiener!" durchs Land und hat die öffentliche Meinung auf seiner Seite. Seit Monaten wird er wortreich unterstützt von Giorgia Meloni, Chefin der mindestens ebenso rechten Partei Fratelli d’Italia. Ihre antieuropäische Hetze ist ein Renner auf sozialen Medien. Würde diesen Sonntag gewählt, hätten die beiden sehr gute Chancen die nächste italienische Regierung stellen.

Die Conte-Regierung kann die Gelder des Kurzarbeitsprogramms annehmen und tut es auch. Gleiches gilt für die EIB-Kredite für kleine und mittlere Unternehmen. Der ESM dagegen ist in der italienischen Öffentlichkeit den Abwägungen der ökonomischen Rationalität entzogen. Die aktuelle Regierung von Sozialdemokraten und 5-Sterne-Bewegung kann sie nicht annehmen: Erstens, weil ihr die Gelder nicht schnell genug aus der ökonomischen Misere helfen, um das symbolische Opfer aufzuwiegen. Zweitens fallen die Rechten über die Regierung her und verleumden sie als Verräter, als Lakaien Deutschlands u.ä. Und drittens hat die 5-Sterne-Bewegung selbst über Jahre diese Rhetorik an den Tag gelegt, sodass eine Kehrtwende jetzt ihren politischen Untergang besiegeln würde. Dass Guiseppe Conte sich überhaupt ins deutsche Fernsehen wagte mit einem Appell an die deutsche Öffentlichkeit, war europapolitisch bedeutsam und zugleich innenpolitisch hochriskant.

Der große Fehler der deutschen und der niederländischen Regierung ist es, Corona-Bonds allein unter einer ökonomischen Brille zu betrachten. Die kaum überschaubaren Details zu Zinssätzen, Laufzeiten, geteilter Haushaltsverantwortung usw. sind ökonomisch enorm gewichtig für die Zukunft. Zugleich verschwinden sie aus der politischen Debatte Italiens, was auch mit dem bisherigen Verlauf der Corona-Krise zu tun hat.

Die Regierung wurde Ende Februar mit ihrer offiziellen Bitte um Hilfe von allen europäischen Partnern faktisch völlig im Stich gelassen. Im kollektiven Gedächtnis Italiens hat sich dieses Verlassen-Fühlen bereits so eingebrannt, dass jetzt stattfindende Hilfsleistungen von Deutschland und anderen Ländern diesen Schaden nicht mehr aufwiegen. Es ist eine sozialpsychologische Hypothek für die politische Zusammenarbeit in Europa, deren Ausmaß man sich hierzulande nur schwer klar machen kann. Das Bild vom „hässlichen Deutschen“, der das italienische Volk „verbluten lässt“, macht sich nun dank Salvini und Meloni überall breit.

Italiens Rechte haben dafür über Jahre den Boden bereitet und sind nun in der Position, die Ernte einzufahren. Eine Rückkehr des Lega-Chefs auf die Regierungsbank in Rom wäre von ganz anderer Qualität als sein erstes Intermezzo dort: Er wäre Ministerpräsident und nicht bloß Innenminister. Zudem hätte er mit Fratelli d’Italia einen Koalitionspartner, der ihm ideologisch nahesteht. Dieses nationalistische und rassistische Gespann wäre von einer ganz anderen Durchschlagskraft als die dysfunktionale Kooperation mit der ideologisch und organisatorisch diffusen 5-Sterne-Bewegung.

Diese Populisten-Regierung hatte die EU-Kommission u.a. mit sehr plausiblen wirtschaftlichen Horrorszenarien von ihren Austrittsplänen aus der gemeinsamen Währung abbringen können. Jetzt muss man feststellen: Die umfassende Verarmung des Landes, dessen wohlhabender Norden von der Corona-Pandemie zerstört wird, entzieht solchen Argumentationsstrategien den Boden. Salvini könnte die leidende Bevölkerung mit nationalistischen Beschwörungen und Rachephantasien ohne Probleme hinter sich bringen. Europa würde Italien verlieren.

(Wem das alles überspitzt erscheint: Der Nudelhersteller Barilla wendet sich derzeit in einem Werbespot mit dem Satz ans italienische Publikum: „Al suo popolo che, ancora una volta, resiste.“ – „An sein Volk, das sich erneut widersetzt.“ Aktuell gilt der Widerstand dem Corona-Virus; das „erneut“ spielt an auf den Widerstand gegen Nazi-Deutschland am Ende des Zweiten Weltkriegs.)

Was bleibt der Regierung Conte eigentlich noch? Sie macht die Corona-Bonds – unterstützt von Spanien, Frankreich und der Mehrheit der Eurozonen-Staaten – zu einer Gegenchiffre zum ESM: Mit den Bonds verbindet sich mittlerweile die Frage, ob das Land in der EU überhaupt noch etwas bedeutet und durchsetzen kann. Contes verzweifelte Hoffnung hinter seiner notwendigen parteipolitischen Taktiererei ist, dass er der italienischen Öffentlichkeit diesen Durchsetzungsbeweis liefern kann. In schier endlosen Appellen und Petitionen von europäischen Ökonom*innen, Politiker*innen und Intellektuellen erhält das Instrument der Corona-Bonds nicht nur politischen, sondern auch deutlichen ökonomischen Zuspruch.

Berlin und Amsterdam dürfen das nicht länger ignorieren. Denn es gilt der Satz des britischen Historikers Timothy Gordon Ash: Eine EU ohne Großbritannien ist denkbar, eine EU ohne Italien nicht.