Progressive Netz-Kampagnen zur Corona-Krise haben erneut gezeigt: Bei vielen könnte der zivilgesellschaftliche Rückhalt noch wachsen.
Wer die Eingaben zu diversen von der Covid 19-Krise ausgelösten oder zutage geförderten Notlagen verfolgt hat, sieht sich mit einer Fülle an Petitionen und Aufrufen konfrontiert: Nach grober Schätzung sind hierzulande im Zeitraum eines Vierteljahres mehr als 50 überregionale Netz-Kampagnen zu Rettungs- und Reformmaßnahmen in verschiedenen Politikfeldern verbreitet worden. Daran beteiligten sich nicht nur die dafür zuständigen Kampagnen-Plattformen, sondern auch NGOs aus dem umwelt-, wirtschafts- und friedenspolitischen Sektor.
Die Reichweite an Themen und Forderungen ist beachtlich: Bereits Anfang März macht die NGO Rettet den Regenwald mit ihrer Petition Wildtiermärkte schließen auf einen zentralen Ursprung der Pandemie aufmerksam. Dieser folgt eine Eingabe zur Notlage von Künstler*innen und Freiberufler *innen bei openPetition, der sich auf Change.org eine viel beachtete, zugleich aber strittige Petition zur Einführung eines Grundeinkommens anschließt. Ebenso erscheinen im Netz Aufrufe von Pflegekräften zur Verbesserung der medizinischen Versorgung und ihrer beruflichen Situation sowie Appelle, die sich angesichts der Ansteckungsgefahren für die Evakuierung von Flüchtlingen aus Sammelunterkünften und Lagern an den EU-Außengrenzen einsetzen. Hierzu bildet sich ein breites Bündnis, dessen Botschaft #LeaveNoOneBehind viele Menschen dazu anregt, während des Shutdowns mit dieser Losung auf Aushängen im öffentlichen Raum gegen die alarmierenden Missstände in den Lagern zu protestieren. Ferner wird in Eingaben von Greenpeace, Lobby Control, ICAN, Campact und auf dem Beteiligungsforum WeAct vor einem rückschrittlichen Regierungshandeln gewarnt und gegen die Ratifizierung des EU-Mercosur-Abkommens, Beschaffung neuer atomwaffenfähiger Kampfjets für die Bundeswehr oder Einführung einer Abwrackprämie zur Wiederankurbelung der Automobilindustrie Einspruch erhoben.
Zugleich löst die Pandemie international Hilferufe aus: Im April verbreitet AVAAZ zwei Appelle zum Schuldenerlass für die ärmsten Länder der Welt und zur Unterstützung der WHO. Ferner veröffentlicht die Plattform zwei Weckrufe von angesehenen Persönlichkeiten: des UN-Generalsekretärs Anónio Guterres zur Durchsetzung eines globalen Waffenstillstands und Fotografen Sebastiao Salgado zum Schutz indigener Völker in Brasilien. Aufgrund internationalen Zuspruchs erreicht die Guterres-Initiative mit 2 Millionen Unterschriften die höchste Zustimmung unter allen Covid19 Kampagnen. Ebenso wird ein offener Brief an die EU-Kommission, EZB und EU-Mitgliedsländer zum "Grünen Wiederaufbau“ in Europa von 1 Million AVAAZ-Anhänger*innen unterstützt.
Netz-Kampagnen mit einem auf Deutschland und Europa beschränkten Aktionsradius erhalten hingegen deutlich weniger Zuspruch, wie etwa der von der Bürgerbewegung Finanzwende an die europäischen Finanzminister gerichtete Appell Spekulation jetzt ausbremsen!, der deutsch-italienische Aufruf Europäische Solidarität Jetzt!, die Deklaration von WeMove.EU zu einem sozialökologischen Investitionsprogramm oder die seitens Greenpeace und WWF auf die hiesige Konjunkturpolitik bezogenen Eingaben. All diese Initiativen erreichen bisher nur Zustimmungswerte im fünf- oder sechsstelligen Bereich, obwohl es hier entscheidend um die europäische und deutsche Zukunft geht: die Übernahme von Krisenkosten durch gemeinsame Anleihen, Durchsetzung einer Digitalsteuer oder Bindung aller künftigen Investitionsvorhaben an die Einhaltung von Umwelt- und Sozialstandards.
Damit stellt sich die Frage, warum zukunftsweisenden Eingaben nicht eine ähnlich hohe Unterstützung zuteil wird wie der gegen Uploadfilter gerichteten Kampagne Save the Internet. Die Petition erhielt europaweit 5 Millionen Unterschriften und wurde im März 2019 zur Speerspitze einer spontanen Protestbewegung gegen die neue EU-Urheberrechtsrichtlinie.
Diese Verknüpfung zwischen Netz- und Straßenaktivismus kann als Lehrstück verstanden werden, wie sich gesellschaftlicher Druck erhöhen lässt: Hier gelang einer internetaffinen Alterskohorte zu einem Thema, bei dem es keineswegs um elementare Überlebensfragen ging, eine digitale Mobilisierung in direkter Verbindung mit Straßenprotesten.
Solche Intermedialität ist von Initiativen, die eine sozialökologische Transformation anstreben, bisher kaum aufgegriffen worden. Hierfür wäre z.B. der von Fridays for Future (FFF) am 24.4. durchgeführte Netzstreik fürs Klima geeignet gewesen. Dieser hätte dafür genutzt werden können, die 230.000 Zuschauer*innen des Livestreams zu einer Beteiligung an zielführenden klima- und umweltpolitischen Kampagnen während des Lockdowns zu animieren. Stattdessen überwogen bei der Direktübertragung und Aktion vor dem Reichstag mündliche Statements, Gruppenbeiträge und selbstgefertigte Demo-Plakate.
Ähnliches gilt für das Demokratiefestival 12/06/2020, das von einem Berliner Start-up in Kooperation mit Aktivist*innen von FFF und den Scientists for Future initiiert wurde, jetzt aber vorerst abgesagt ist. Beabsichtigt war, mehr als 50.000 Menschen im Olympiastadion mit Smartphones über neue, an den Petitionsausschuss adressierte Petitionen zu den Themen Klimawandel, Rassismus und Diskriminierung abstimmen zu lassen und so dessen Sperrklausel zu umgehen.
Dieses Aktionsformat entspricht jener Online-Offline-Koppelung, wie sie bei Save the Internet der Fall war. Doch wurde dabei bislang nicht die Vielzahl bereits existierender Petitionen berücksichtigt und ebenso nicht, wie deren breitere Unterstützung gelingen könnte. Im Zentrum stand vielmehr das Ziel, den Bundestag aus dem Stand u.a. klimapolitisch unter Druck zu setzen.
Dass dieser, auf der Straße wie im Netz ausgeübt, nicht wirkungslos ist, haben die Konjunkturpaketbeschlüsse der Regierung gezeigt, bei denen der Einfluss der Autolobby spürbar zurückgedrängt worden ist. Weitere Konfliktthemen bedürfen jedoch einer kontinuierlichen Sachinformation und Bekanntmachung über die jeweils angesprochenen Zielgruppen hinaus. Denn als wirksamer Einflussfaktor steht und fällt die Kampagnen-Praxis mit einer intensiven Bewerbung aktueller Netzinitiativen, die sich bislang überwiegend nur auf die Bekanntenkreise der Follower*innen beschränkt, in Zukunft aber auch auf Kundgebungen, Diskussionsveranstaltungen, Kongresse und Fortbildungen ausgeweitet werden sollte, um die Breitenwirkung von Kampagnen zu erhöhen.
Darüber hinaus kann der zivilgesellschaftliche Rückhalt gegenüber dieser Einflussform nur wachsen, wenn die hierbei eingeforderte Solidarität auch die fragmentierte Kampagnen-Praxis selbst betreffen würde: Anstrebenswert wäre eine Kooperation der Akteur*innen, die über konkurrierende Organisationslogiken hinausreicht und das Ziel einer allgemeinen Verbesserung zivilgesellschaftlicher Partizipationschancen verfolgt: So könnten etwa namhafte Plattformen und NGOs ihre Zielgruppen auf das Internetportal Soliklick oder die Handreichungen der Bremer Heinrich-Böll-Stiftung aufmerksam machen und auf diese Weise Zugänge zu anderen wichtigen Kampagnen ermöglichen. Zugleich aber sollte die Kampagnen-Szene in Zukunft Überangebote vermeiden: Einsprüche und Forderungen gleichen oder ähnlichen Inhalts könnten wahrscheinlich noch viel häufiger als bisher in gemeinsam organisierten Kampagnen gebündelt werden, wodurch sich die künftige politische Willensbildung erheblich erleichtern und verbreitern ließe.