5. November 1989: Aufbruchstimmung in der DDR

Stimmen aus der Heinrich-Böll-Stiftung

1989, 5. November: Reinhard Weißhuhn berichtet kurz vor Maueröffnung für die ungarische Szamisdat-Zeitschrift Beszelö über die politische Lage in der DDR. Das Neue Forum signalisiert den Beginn der Legalisierung politisch-oppositioneller Gruppen, es hagelt Resolutionen und Demos, noch gilt das Monopol der Staatspartei SED. Blitzlicht aus der Revolution, bei zu dem Zeitpunkt durchaus offenem Ausgang.

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Noch im April diesen Jahres konstatierte der "Grenzfall", die von Mitgliedern der Initiative Frieden und Menschenrechte herausgegebene, bekannteste unabhängige Zeitschrift der DDR, Auswanderungsdruck und Leistungsverweigerung als die beiden wesentlichen Ausdrucksformen der atomisierten, entmündigten und sprachlosen DDR-Bevölkerung. "Von Gesellschaft als aktiver, handelnder Kraft kann keine Rede sein. Es gibt weder gewerkschaftlichen noch ernstzunehmenden politischen Druck seitens der Bevölkerung", und "die Krise ist eine politische".

Mit Ausnahme dieser letzten Feststellung ist die Diagnose von vor einem halben Jahr inzwischen von der Geschichte überholt worden. Der Anfang der jüngsten, sich selbst und ihre Kommentierung täglich überschlagenden Entwicklung war die Kommunalwahl im Mai, der Boykottaufrufe und die Ankündigung unabhängiger Kontrolle seitens der Opposition vorausgingen. Tatsächlich gelang der Nachweis wenn nicht der Fälschung, so doch der beschönigenden Manipulation. Dies mobilisierte breite moralische Empörung, als wäre die Erkenntnis, dass es keine Wahlen gibt, etwas völlig Neues. Nicht das war also der Grund, sondern die einfache Tatsache, dass das Faß am Überlaufen war. Die Ignoranz der Partei- und Staatsführung verschärfte seitdem die Stimmung zusehends.

Die regelmäßigen Demonstrationen gegen den Wahlbetrug wurden gewaltsam zerschlagen, ebenso wie die Proteste gegen das Massaker in Peking, das seinerseits vom damaligen Kronprinzen im Politbüro, Egon Krenz, ausdrücklich gutgeheißen wurde. Man verstand das hier als fast unverhüllte Drohung. Als dann die Flucht durch das unerwartet sich öffnende Ventil an der ungarisch-österreichischen Grenze begann, waren die Tage der Honecker-Führung endgültig gezählt. Die Galgenfrist des ewig farblos gebliebenen Erich Honecker lief bis zum 40. Jahrestag der DDR, und dessen schon reichlich diskreditierte Feier wurde seine Henkersmahlzeit - sicherlich nicht ohne Zuraten des auf Stabilität an seiner Westgrenze bedachten Gorbatschow.

Mittlerweile erhielt das "Neue Forum", im September als erste Sammelbewegung der Opposition gegründet, trotz des sofortigen offiziellen Verdikts der Staatsfeindlichkeit täglichen Zulauf von hunderten, bald tausenden von Unzufriedenen. Die ersten und bisher einzigen auf beiden Seiten gewalttätigen Auseinandersetzungen gab es in Dresden zwischen dem 3. und dem 5. Oktober. Ausreisewillige versuchten, den Bahnhof zu stürmen, um die dort durchfahrenden Züge mit den Botschaftsbesetzern aus Prag in die Bundesrepublik zu erreichen. Diese und die wöchentlich stattfindenden Demonstrationen in Leipzig kündigten an, was am 7. und 8. Oktober, dem Jahrestag der DDR-Gründung, unvermeidlich wurde: der Sturz der Parteispitze durch den massiven Protest der Bevölkerung. In Berlin, Dresden, Leipzig und anderen Orten gingen Polizei und Staatssicherheit mit solcher Brutalität gegen die Demonstrationen vor, dass die Empörung auf den Siedepunkt stieg.

Plötzlich war die jahrzehntealte Angst verschwunden. Obwohl die Gerüchte sich verdichteten, dass von nun an die "chinesische Lösung" gesucht werden würde, gingen am 9. Oktober mehr als 100000 Menschen in Leipzig auf die Straße. Die Entscheidung mußte fallen, und Egon Krenz, im Politbüro verantwortlich für Innere Sicherheit, schwenkte um. Mit dieser ersten beiderseits gewaltlosen Demonstration begann die sogenannte "Wende" - ein dem Wortschatz der westdeutschen Regierungsparteien entlehnter Begriff -, deren Verlauf seither mit erheblichem Misstrauen beobachtet und die durch täglich weitergehende Forderungen aus den verschiedensten Organisationen, Interessengruppen und sozialen Schichten vorangetrieben wird.

Seit Mitte September hagelt es Resolutionen, Aufrufe und Appelle von Künstlern, Wissenschaftlern, Journalisten, von Brigaden und Gewerkschaftsgruppen, Studenten und ganzen Betriebsbelegschaften. Die Solidaritätserklärung der Rockmusiker mit dem "Neuen Forum" erregte besonderes Aufsehen, nicht nur wegen der Prominenz der Unterzeichner. Einige von ihnen setzten erstmals die Veröffentlichung einer Gegendarstellung in der offiziellen Zeitung des staatlichen Jugendverbandes, der "Jungen Welt", durch. Diese hatte versucht, im Bericht über ein Gespräch zwischen populären Rockstars und dem Zentralrat des Jugendverbandes die Solidarisierung der Musiker mit dem Anliegen der Opposition in eine Distanzierung zu verwandeln. Ähnliche Schwierigkeiten hat diese Zeitung mit der Forderung der Studenten der Berliner Universität nach Gründung eines unabhängigen Studentenverbandes.



Trotzdem hat sich inzwischen die Medienlandschaft ebenso deutlich wie schlagartig geöffnet, und langsam lassen sich Nuancen erkennen. Am weitesten ist das Organ der Liberal-Demokratischen Partei, einer der Satellitenparteien der SED. Der Vorsitzende dieser Partei fordert jetzt schon den sofortigen Rücktritt der Regierung. Mit dieser populären Forderung gewinnt er natürlich viele Sympathien und kann sich so auf Kosten der SED profilieren. Einige vermuten sogar eine geschickte Kalkulation der SED dahinter, die auf diese Weise einen Joker aus dem Ärmel zaubern könnte, wenn es tatsächlich zur Regierungsneubildung käme. Manches deutet darauf hin, denn schon jetzt rollen die Köpfe in Scharen. Charakteristisch für die Situation ist das Beispiel des Vorsitzenden der Industriegewerkschaft Metall. Für dessen sofortigen Rücktritt genügte der Bericht einer Zeitung über den Bau seiner Villa durch Bauarbeiter, die eigentlich an einem U-Bahnhof arbeiten sollten.



Die Entwicklung seit dem 9. Oktober vollzieht sich geradezu explosionsartig. Nichts von dem, was jetzt öffentlich geschieht, wäre noch vor vier Wochen auch nur denkbar gewesen. Den Funktionären nicht nur der SED ist die Existenzangst ins Gesicht geschrieben, und verzweifelt wird allerorten um "Wiedergewinnung des Vertrauens" geworben. Die Menschen sind nach 40 Jahren misstrauisch genug und fallen auf wortreiche Versprechungen nicht herein. Aber die Stimmung ist ambivalent, und es ist nicht sicher, wieweit das ungeschulte politische Bewusstsein der Divide-et-impera-Politik der SED standhält. Deutlich wird das am Verhältnis zum "Neuen Forum", das kurz vor seiner staatlichen Legalisierung steht. Man versucht, die mit Abstand größte oppositionelle Bewegung - derzeit an die 100000 Unterzeichner hat ihr Aufruf "Aufbruch 89" - an sich zu drücken, indem man ihre unklare Position zum Führungsanspruch der SED ausnutzt. Zur Voraussetzung ihrer Anerkennung soll ihre Festlegung auf die Verfassung gemacht werden. Die "führende Rolle der Partei" ist in der gültigen Verfassung fixiert, und das "Neue Forum" hat als einzige Gruppe bisher die formelle Legalisierung beantragt.



Aber das "Neue Forum" ist nicht die einzige Oppositionsgruppe. In schneller Folge wurden seit September weitere Gründungen vollzogen, deren Resonanz ebenfalls beachtlich ist. So gibt es eine Sozialdemokratische Partei, eine Parteiinitiative "Demokratischer Aufbruch", eine Bewegung der "Vereinigten Linken", die Bewegung "Demokratie Jetzt" und als Überlebende aus der bisherigen Opposition die "Initiative Frieden und Menschenrechte", die schon im März einen landesweiten Start versucht hatte. Im Gespräch ist auch die Gründung einer grün-alternativen Partei.



Die Initiatoren auch der Neugründungen entstammen alle der bisherigen Opposition, die sich im wesentlichen aus ursprünglich marxistischen Linken und aus Theologen und Christen zusammensetzte. Inhaltlich sind die verschiedenen Gruppen noch wenig differenziert. Allen gemeinsam ist die Forderung nach den politischen Grundrechten, nach Demokratie mit Pluralismus und freien Wahlen und die Ablehnung des institutionalisierten Führungsanspruchs der SED. Angestrebt wird ein gemeinsames Wahlprogramm zu den Volkskammerwahlen 1991.



Vorerst ist es kaum möglich, die weitere Entwicklung des politischen Spektrums, geschweige denn der politischen Gesamtsituation einzuschätzen. Immerhin: von Tag zu Tag wächst die Wahrscheinlichkeit, dass der Prozess der Reform unumkehrbar wird. Was das konkret bedeutet, weiß heute wohl noch niemand. Bislang berufen sich die meisten politischen Strömungen auf den Sozialismus, was immer sie damit meinen mögen. Nur das "Neue Forum" und die "Initiative Frieden und Menschenrechte" benutzen diesen Begriff mangels klarem Inhalt nicht, was ihnen entsprechende Vorwürfe eingetragen hat. Aber auch der sich durchaus als Sozialist verstehende prominente Schriftsteller Stefan Heym hat seine Probleme damit. In seiner Rede auf der größten - und ersten genehmigten - Demonstration in der Geschichte der DDR am 4. November in Berlin sagte er: "Die Leute haben immer gekuscht, unter dem Kaiser, unter den Nazis, und später auch ..." Jetzt jedenfalls tun sie es nicht mehr.