Weniger Pathos wagen!

Artikel

Die Überschrift ist von der Süddeutschen Zeitung vergangener Woche geklaut, aber sie ist sehr treffend. Ich möchte sie ergänzen durch: Weniger Panik wagen!

Viele Euro Münzen

Es geht um die Art und Weise der Argumentation, mit der viele Grüne unsere Forderung nach einer gemeinschaftlichen Kreditaufnahme der EU („Corona-Bonds“) begründet und vertreten haben. Kurzgefasst ging das so: Corona-Bonds! – oder Italien geht verloren und die EU ist am Ende, sie zerfällt. Das hat etwa Emanuel Herold in einem Artikel vertieft. Ich halte seine zugespitzten Thesen wie auch die Einlassungen anderer Grüner in wichtigen Punkten für falsch. Zur Begründung muss ich etwas in die Geschichte zurückgehen.

Die Forderung nach „Eurobonds“ wurde in der Folge der Finanzkrise unter anderem von uns Grünen entwickelt und vertreten. Ich selbst habe dazu einen Antrag für die Bürgerschaft formuliert, der damals auch angenommen wurde. Die Idee war: Mit den „Eurobonds“ sollte ein Teil der neuen Schulden gemeinsam von den Euro-Staaten aufgenommen werden. Gemeinsam bedeutet, dass z.B. bei einem 100-Mrd.-Kredit Frankreich 20 Mrd. aufnimmt, Niederlande 5 Mrd., Spanien 10 Mrd. usw. Alle Staaten verpflichten sich, ihren Anteil mit Zinsen zu bedienen und am Ende zurückzuzahlen. Geschenkt werden sollte also nichts. Gemeinschaftlich bedeutete aber, dass Frankreich, die Niederlande mit allen anderen kreditnehmenden Staaten auch für die Schulden Spaniens eintritt, wenn Spanien nicht mehr zahlen kann. Alle bürgen also gemeinsam füreinander für den Fall des Ausfalls. Es ist daher ein Risiko da, das ist aber überschaubar; und es lohnt auch den Einsatz, um Staaten in der EU zu halten und zu „retten“.

Unser Ziel war einfach: Solche „Eurobonds“ hätten zu einem Zinssatz aufgenommen werden können, der erheblich niedriger gewesen wäre als der relativ hohe, den stark verschuldete und gefährdete Staaten zahlen mussten (und nur etwas höher als der Zinssatz etwa für deutsche Anleihen). Und die gemeinsame Bürgschaft hätte dazu führen können, dass das Bewusstsein bei allen Staaten wach bleibt, dass wir inzwischen aufeinander angewiesen sind.

Angewiesen, aber ohne wirklich gegenseitig auf die nationalen Politiken der „anderen“ Einfluss nehmen zu können – was von allen übrigens auch abgelehnt würde. Und das ist nun mal die andere Seite des europäischen Staatenbundes, wie er heute gebaut ist. Und deshalb (und weil auch die Verträge das nur schwer hergeben) gab es für „Eurobonds“ auch nie eine Mehrheit, nicht im Norden und auch nicht im Osten der EU. Stattdessen wurde ein anderer Weg entwickelt, am Ende der Europäische Stabilitätsmechanismus (ESM); er hat Staaten wie Portugal, Spanien, Irland mit billigen Krediten geholfen und ihnen so einen tragbaren Weg an die Kapitalmärkte ermöglicht. Mit Erfolg. (Griechenland ist in jeder Hinsicht ein Sonderfall.) Keines der genannten Länder war jemals eine „Kolonie“ der Kommission oder gar Deutschlands, jedes dieser Länder hat mit Hilfe der EU auf seine je eigene Weise selbst den Weg aus der Krise gefunden und ist dabei mehr oder weniger weit gekommen.

Weil das so war, ist die Diskussion um „Eurobonds“ in den Jahren nach 2012 ff. ziemlich verstummt. Und weil die EZB die Zinsen insgesamt niedrig gehalten hat. (Übrigens auch die gemeinsamen „Bund-Länder-Anleihen“ in Deutschland, die Bremen aus den gleichen Gründen wollte, sind nur einmal und dann nie wieder aufgelegt worden.) In den letzten Wochen haben viele, auch wir, die Idee von gemeinschaftlichen Anleihen wiederbelebt, auf die aktuelle Krise bezogen und mit ihr begründet, deshalb der Name „Corona-Bonds“. Angesichts der Größe der Krise, und angesichts der unterschiedlichen Belastungen der Mitgliedsstaaten durch diese Krise, ist dies auch einsichtig und sehr vernünftig.

Nicht vernünftig, ja kontraproduktiv sind aber teilweise unsere Begründungen, die alle darauf hinauslaufen, das schon beschlossene (und jetzt vom Rat bestätigte) 500-Mrd.-Programm geringzuschätzen – obwohl die 100 Mrd. für Kurzarbeit eine direkte gemeinschaftliche „Rückversicherung“ sind, die wir lange gefordert haben –; dabei wird das Mantra wiederholt: Nur „Corona-Bonds“ retten die EU.

Ich glaube, es ist grundsätzlich ein Irrglaube, dass das Argument „Genau dies oder nichts“ hilfreich sei, wenn man vorhat, Mehrheiten für eine gute Sache zu gewinnen. Ein Argument wird in der Regel nicht stärker, wenn man den Einsatz erhöht und das Ende an die Wand malt. Das ist jedenfalls meine Erfahrung gerade aus 30 Jahren Europapolitik, in denen ich lernen musste, dass die europäische Integration schon ganz andere Krisen überstanden hatte, als die, die ich zunächst gerade für „auf Leben oder Tod“ hielt.

Für grundsätzlich falsch halte ich den Versuch, widerstrebende Mitgliedsstaaten, also Verhandlungspartner, dadurch zu überzeugen, dass man auf mögliche innenpolitische Konsequenzen in einem Land verweist, wenn das und das nicht passiere. Denn wir haben in anderen Mitgliedstaaten auch innenpolitische Konsequenzen, wenn das und das passiert – als Beispiel in den Niederlanden ein Anwachsen der Rechtspopulisten bei „Vergemeinschaftung der Schulden“. Und da nutzt auch der Verweis auf die „symbolische“ Bedeutung von „Coronabonds“ für die europafreundlichen Kräfte in Italien wenig, denn diese Symbolik spielt eben in umgekehrter Weise anderswo auch eine Rolle. Symbolische, auf Emotion setzende Politik ist eben allgemein empfänglich für nationale und nationalistische Deutung. Deshalb ist es leider nicht verwunderlich, wenn das Echo dann auch mal genauso dumm nationalistisch ist, das war auch beim Brexit so.

Ganz ärgerlich und falsch fand ich diesem Zusammenhang zwei Wortmeldungen von Sven Giegold. Zum einen hat er Verständnis gezeigt für die Erklärung der italienischen Regierung, sie werde die angebotenen Hilfskredite des ESM nicht annehmen. Diese Erklärung hatte die „Fünf-Sterne-Bewegung“ erzwungen, in der Tradition ihrer grundsätzlich europafeindlichen Politik, die in „Brüssel“ (und dahinter der eigentliche Herrscher Deutschland) eine Diktatur und Fremdherrschaft sieht; und in Krediten des ESM ein Instrument, Italien zu knebeln. Dem dürfen wir niemals irgendwie Beifall klatschen.

Das zweite ist die Behauptung, die zeitweise hohe Belastung des Gesundheitssystems in Norditalien sei Ergebnis der „deutschen Austeritätspolitik“. Tatsache ist, dass niemand dem italienischen Staat und schon gar nicht den zuständigen Regionalregierungen irgendwelche Vorschriften über ihre politischen Prioritäten gemacht hat, Italien war auch nie unter dem Rettungsschirm. Und es ist offensichtlich, dass die rechte Lega, die in einigen der besonders Corona-betroffenen Regionen regiert, selbst für die Mängel im Gesundheitswesen die Verantwortung trägt und nun von dieser Verantwortung mit Deutschland-Bashing ablenken will. (Dazu die Süddeutsche vom 17. 4.) Natürlich gibt es dann auch dumme, nationalistische Töne aus Deutschland – denen müssen wir entgegentreten, aber nie den italienischen Rechtspopulisten zustimmen.

540 Mrd. zur Bewältigung der Corona-Krise und ihrer wirtschaftlichen Folgen sind jetzt vom Rat beschlossen worden, auch eine Kreditvergabe über den ESM, ausdrücklich ohne Vorgaben und Bedingungen. Es gibt keinerlei Grund, das kleinzureden. Vergangene Woche hat der Rat außerdem die Kommission beauftragt, einen Vorschlag für einen „Wiederaufbaufonds“ zu machen, der mit dem Haushalt der EU verknüpft wird und ihn erheblich ausdehnen soll. In welchem Umfang dies (wie die Mittel der Strukturfonds schon bisher) als Zuschuss ausgezahlt werden soll und inwieweit damit Kredite mobilisiert werden sollen, muss noch festgelegt werden.

Was der Europäische Rat – und übrigens ähnlich schon das Europäische Parlament, bei Enthaltung der Grünen – damit angestoßen hat, glänzt vielleicht nicht mit sehr viel Symbolkraft. Und man kann auch wieder kritisieren, es gehe zu langsam und sei sowieso nicht genug und sich dann bei Grüns gegenseitig in der Höhe des Wiederaufbaufonds überbieten, eine, anderthalb, zwei Billionen. Aber der Rat hat sich geeinigt, dass nun auch die Staaten der EU – mit den Instrumenten der EU, in der Hauptsache dem Haushalt der EU – gemeinsam die Folgen der Corona-Krise bewältigen wollen, zusätzlich zu den nationalen Programmen und den Initiativen der Bürger*innen.

Unsere Aufgabe sehe ich jetzt in konstruktiven Vorschlägen, wie das geschehen soll, mit welcher inhaltlichen Ausrichtung (Klimaschutz!); und die Bundesregierung als Ratspräsidentschaft in unserer Innenpolitik mit solchen Vorschlägen zu konfrontieren. Wir sollten dabei die Haltung, die Philosophie, die Ziele, die der Idee von „Corona-Bonds“ zugrunde liegen, in diese Diskussion der nächsten Monate mit einbringen.

Die Europäische Union ist nicht auseinandergefallen. Kompromisslerische, auf das Ganze und seine einzelnen Teile gleichermaßen achtende, pragmatische, unvollkommene Politik scheint wieder eine gute Chance zu haben. Trauen wir uns also auch: Weniger Pathos, weniger Panik. Denn zu viel davon ist gefährlich.