28. Juni 1919: Mit der Unterzeichnung des Friedensvertrags von Versailles endete der Erste Weltkrieg. Deutschland musste die alleinige Kriegsschuld anerkennen und umfangreiche Reparationen leisten. Das zählt zum Allgemeinwissen in der Bundesrepublik. Weniger bekannt ist, welche anderen, globalen Prozesse und Institutionen mit dem umfassenden Vertragswerk auf den Weg gebracht wurden: An den Völkerbund, die Internationale Arbeitsorganisation und an die Neuordnung der Kolonialpolitik vor hundert Jahren erinnert die Historikerin Birte Förster.
Der Friedensvertrag von Versailles verschaffte der Weimarer Republik ihren ersten Eklat. Mit einer wortgewaltigen Rede hatte der Regierungschef Philipp Scheidemann (SPD) am 12. Mai 1919 sein Amt niedergelegt, weil er das Friedensangebot der Alliierten für inakzeptabel hielt. „Welche Hand müsste nicht verdorren, die sich und uns in diese Fesseln legt?“, rief er den Abgeordneten der Verfassungsgebenden Nationalversammlung in Anspielung auf das biblische Buch der Könige zu.
Aus dem „Traumland der Waffenstillstandsperiode“ – so der liberale Politiker und Theologe Ernst Troeltsch – waren Unterhändler, Regierung und deutsche Öffentlichkeit jäh erwacht, als die Friedensbedingungen am 7. Mai 1919 in Paris bekanntgegeben worden waren. Seit Anfang des Jahres 1919 handelten dort die vier Siegermächte und ihre Verbündeten insgesamt fünf Friedensverträge aus, die Verhandlungen führten der amerikanische Präsident Woodrow Wilson, der französische Ministerpräsident George Clemenceau und der britische Premier David Lloyd George.
Kriegsschuld und Gebietsabtretungen
Zwei große Themen hatten die Verhandlungen der Siegermächte über den Versailler Vertrag beherrscht: die Frage der Gebietsabtretungen und die Frage der Verantwortung für den Krieg samt der daraus resultierenden Verpflichtung zur Wiedergutmachung. Beide Vorgänge entsprachen dem Kriegsrecht. Gebietsabtretungen waren ebenso klassische Merkmale von Friedensschlüssen wie die Gepflogenheit, dass ein Kriegsverlierer die Kosten des Krieges übernahm. Um das zu legitimieren, musste zunächst einmal die Kriegsschuld festgestellt werden. Dabei ging es in Artikel 231 nicht nur um Deutschland als Verursacher des Krieges, sondern um die Verantwortung „für alle verursachten Verluste und Schäden“.
Als Kriegsschäden wurden alle Schäden definiert, die Zivilpersonen der alliierten Mächte und ihrer Verbündeten seit Beginn des Krieges zugefügt worden waren, das galt nicht nur für die Opfer selbst, sondern auch für deren Hinterbliebene. Alles, was die deutschen Truppen requiriert, beschädigt oder vernichtet hatten, wurde ebenfalls auf die Schadensliste genommen. Dazu kamen Belgiens Kredite bei den Alliierten und der Ersatz für versenkte Handelsschiffe. Mit dieser ungewöhnlich breiten Definition setzten sich Clemenceau und Lloyd George gegen den amerikanischen Präsidenten durch. Der hatte vor allem für die tatsächlich in Belgien und Frankreich entstandenen Kosten Leistungen vorgesehen.
Wie hoch die zu zahlende Summe sein würde, war im Juni 1919 nicht einmal bekannt, sie sollte erst im Mai 1921 festgelegt werden, bis dahin waren 20 Milliarden Goldmark zu zahlen. Dabei hatten die Alliierten die Zahlungsfähigkeit Deutschlands durchaus im Blick – der Umfang der Zahlungen war jedoch nicht nur unter Finanzexperten umstritten und wurde etwa vom britischen Ökonomen John Maynard Keynes öffentlich scharf kritisiert. Neben umfänglichen Gebietsabtretungen im Osten und Westen, durch die Deutschland ein Zehntel seiner Bevölkerung und ein Achtel seines Staatsgebiets einbüßte, verlor es jeglichen Kolonialbesitz.
Hier zeigt sich die globale Dimension des Versailler Vertrags. Denn der regelte nicht nur die Verwaltung deutscher Kolonien neu, sondern verankerte auch die Gründung des Völkerbundes und der Internationalen Arbeitsorganisation im Vertragswerk – ein ungewöhnliches Vorgehen für einen Friedensvertrag.
Gewalt kriminalisieren: Die Gründung des Völkerbundes
Die Gründung eines Völkerbundes, der Demokratien zusammenschließen und so den Frieden dauerhaft fördern sollte, war für Wilson das Kernstück des Friedensvertrages. Konflikte sollten künftig nicht mehr mit Waffen, sondern im Gespräch gelöst werden. Deshalb erhielt jeder Mitgliedsstaat das Recht, vor dem Völkerbundrat und der Vollversammlung eine Diskussion über Konflikte oder Streitpunkte mit anderen Mitgliedsstaaten zu verlangen.
Zentral war neben der Vermittlung die Entschleunigung von Konflikten: Bevor ein Mitgliedstaat in den Krieg ziehen konnte, war gemäß Artikel 12 ein Schiedsspruch einzuholen, nach dem wiederum eine Frist von drei Monaten zu verstreichen hatte. Das Verfahren sollte Zeit für die Deeskalation von Konflikten schaffen, um eine Situation wie im Juli 1914 künftig zu verhindern. Hielt sich ein Mitgliedstaat nicht an Artikel 12, sah Artikel 16 Sanktionsmaßnahmen vor (wirtschaftlicher Boykott, gemeinsame militärische Sanktionen oder auch das Verbot der Kommunikation mit anderen Mitgliedstaaten), denn dies wurde als Akt der Aggression gegen den gesamten Bund verstanden.
[infobox-301371]
Mitglieder konnten zunächst alle Siegermächte und ihre Verbündeten werden, später forderte man auch die neutralen Staaten, die Dominions – selbstverwaltete Kolonien des Britischen Reiches – und, theoretisch, andere sich selbst verwaltende Kolonien zur Mitgliedschaft auf. Doch nicht einmal da weitgehend unabhängige Indien konnte eigenständiges Mitglied des Bundes werden.
Selbst die Verliererstaaten hätten beitreten können, wenn sie sich den Zielen des Völkerbundes verpflichtet hätten und mit einer Zweidrittelmehrheit gewählt worden wären. Das Sagen im Völkerbundrat hatten jedoch die als große Fünf bezeichneten Siegermächte und Japan, weshalb der Brasilianer Epitácio Pessoa die neue Organisation ein wenig bissig nicht Völker- sondern Fünfbund nannte.
Das Gespenst der bolschewistischen Revolution
Angesichts der auch in Paris sehr präsenten politischen Alternative des Kommunismus, drängte Lloyd George darauf, in Paris eine langjährige Forderung der Arbeiterbewegung zu erfüllen: die Gründung einer Internationalen Arbeitsorganisation (IAO). Schon die Gründungskommission war mit drei Parteien besetzt. Um eine Fronstellung zwischen Arbeitnehmern und Arbeitergebern zu verhindern, saßen dort auch Regierungsvertreter – eine Struktur, die wegweisend für die neue Organisation werden sollte.
Ziel der IAO waren weltweit geltende arbeitsrechtliche Standards und die Verbesserung von Arbeitsbedingungen. Erstmals wurden Arbeitgeber international in die Pflicht genommen, um einen höheren Lebensstandard für Arbeiter/innen durch rechtliche und soziale Normen zu ermöglichen. Der belgische Sozialdemokrat Emil Vandervelde, seit Herbst 1918 Justizminister seines Landes, sorgte zudem dafür, dass in der Präambel der IAO soziale Gerechtigkeit als Anliegen aller Beteiligten definiert wurde.
Diese hehren Ziele galten allerdings nicht für alle, denn „international“ bedeutete nicht weltweit, sondern galt vornehmlich für Arbeiter/innen in den westlichen Industriestaaten, nicht jedoch für die in den Kolonien. Damit offenbarte sich ein Grunddilemma der neugegründeten Organisation: Die IAO sollte zwar die Rechte aller Arbeiter/innen stärken und schützen, zugleich aber den Imperialismus der Siegermächte nicht infrage stellen.
Etwas änderte sich aber doch: Die Native Labour Division der IAO dokumentierte Missbrauch und Gewalt in den Kolonien. Die Beamten der Abteilung gaben den Nöten und Bedürfnissen der Kolonisierten eine Stimme. Allerdings erwuchsen in der Zwischenkriegszeit aus den daraus gewonnenen Erkenntnissen keine gleichen Rechte, ein Umdenken erfolgte allenfalls punktuell und in spärlichen Ansätzen, und erst 1946 wurde die Zwangsarbeit in den französischen Kolonien abgeschafft.
Die deutschen Kolonien werden zu Mandatsgebieten
Woodrow Wilson sperrte sich in Paris erfolgreich gegen die Absicht seiner imperialen Verhandlungspartner, die deutschen Kolonialgebiete schlicht dem französischen oder britischen Kolonialimperium zuzuschlagen. Der südafrikanische Präsident Jan Smuts ersann daraufhin ein System, die künftigen Mandatsgebiete gemäß ihres „Entwicklungstandes“ nach Kategorien einzuteilen, um auf diese Weise die Kolonialpolitik trotz Völkerbundmandat weitgehend fortführen zu können. Zu A-Mandaten sollten all jene Territorien werden, die sich eigentlich selbst regieren könnten, aber noch (recht nebulöse) Hilfe bei ihrer Verwaltung benötigten.
In diese Kategorie fiel keine der ehemals deutschen Kolonien, sie galt für die Gebiete des Nahen Ostens. B-Mandate waren Togo, Kamerun und Ostafrika, die von ihren Mandatsmächten verwaltet werden sollten. Es verblieben die C-Mandate: die pazifischen Gebiete und Südwestafrika. Sie wurden als unfähig zur Selbstregierung definiert. Südafrika verleibte in der Folge Südwestafrika de facto seinem Staatsgebiet ein, erst 1990 wurde die frühere deutsche Kolonie unter dem Namen Namibia ein unabhängiger Staat – damit endete dort zugleich das Apartheidregime.
Smuts Plan ging weitgehend auf: Für die Bewohnerinnen und Bewohner der Mandatsgebiete änderte sich wenig, auch wenn das Mandatssystem die Befugnisse der Mandatsträger einschränkte und die Gebiete nun rechtlich dem Völkerbund unterstellt waren. Die Umgestaltung der Kolonialherrschaft war eher konzeptuell als konkret: Kolonialherrschaft wurde zwar als zeitlich begrenzt festgeschrieben, ein Fristende lag jedoch für fast alle Gebiete in weiter Ferne.
Offiziell war es nun die Aufgabe der zu Mandatsträgern mutierten Kolonialherren, sich um das Wohlergehen und die Entwicklung der indigenen Bevölkerung zu kümmern, worüber sie der Mandatskommission des Völkerbundes regelmäßig Bericht erstatten mussten. Auch konnten die Bewohner der Mandatsgebiete Petitionen und Beschwerden über Missstände an dieses Gremium senden. Doch die Kommission hatte kaum Möglichkeiten, auf die tatsächliche Regierung der Mandatsgebiete Einfluss zu nehmen. Als es 1922 in Namibia zu Aufständen kam, die von Südafrika gewaltsam niedergeschlagen wurden, erreichten Mandatskommission und Völkerbundrat noch nicht einmal, dass Südafrika Fehler im Umgang mit der Rebellion zugab.
1919 in Paris sollte die Welt neu geordnet werden. Die beiden im Vertrag von Versailles geschaffenen internationalen Institutionen Völkerbund und IAO waren zukunftsweisende Bestandteile dieser Neuordnung, auch wenn der Völkerbund erst nach seiner Neugründung als Vereinte Nationen im Jahr 1946 größere Schlagkraft entwickeln sollte. Zugleich setzte ein Umdenken in der Kolonialpolitik ein: Zwar lag die Aussicht auf die Unabhängigkeit der Territorien nach dem Willen der Verhandlungspartner in genauso weiter Ferne wie die Rechte indigener Arbeiter/innen, aber beides wurde thematisiert und damit ebenso zum Bezugspunkt für die kolonialen Freiheitsbewegungen der Zwischenkriegszeit, wie Woodrow Wilsons Zusage eines Selbstbestimmungsrechts der Völker. Der Vertrag von Versailles regelte mithin weit mehr als den Frieden mit Deutschland, er sollte Kriege kriminalisieren und eine dauerhafte Friedensordnung etablieren, nicht zuletzt durch mehr soziale Gerechtigkeit.
Unterzeichnung in Versailles
Nach Scheidemanns Rücktritt oblag es seinem Nachfolger Gustav Bauer, am 22. Juni 1919 in der Verfassungsgebenden Nationalversammlung für die Annahme des Vertrages zu werben. Eine Vernunftentscheidung, denn die Alternative wäre die Fortsetzung des Krieges gewesen, eine Ablehnung jedoch hätte keine Abwendung des Vertrages bedeutet, erklärte Bauer. Das Parlament stimmte der Unterzeichnung mit 237 Stimmen zu, es gab 138 Nein-Stimmen und fünf Enthaltungen. Zugestimmt hatten die Abgeordneten unter Vorbehalt, die alleinige Kriegsschuld und die Strafbestimmungen des Vertrags nicht anzuerkennen, doch schon am folgenden Tag musste Bauer zurückrudern: die Alliierten akzeptierten nur die vorbehaltlose Annahme des Vertrags.
Mit Außenminister Hermann Müller (SPD) und Verkehrsminister Johannes Bell (Zentrum) waren es zwei Vertreter der neuen Ordnung, die am 28. Juni 1919 stellvertretend für ihre Regierung ihre Unterschrift unter den Friedensvertrag von Versailles setzten. Die Hand verdorrte dem späteren Reichskanzler Müller zwar nicht, als er im Spiegelsaal von Versailles den Friedensvertrag signierte , aber er nannte die Unterzeichnung später „die schwerste Stunde meines Lebens “. Und er fügte hinzu: „Der Kampf um den wahren Frieden sollte erst beginnen.“
Literaturhinweise
- Als Einstieg zum Weiterlesen: Pariser Friedensordnung. Aus Politik und Zeitgeschichte 15/2019.
Weitere Literatur:
Brandt, Susanne: Das letzte Echo des Krieges. Der Versailler Vertrag. Stuttgart 2018.
Kolb, Eberhard: Der Frieden von Versailles. München 2011.
Leonhard, Jörn: Der überforderte Friede. Versailles und die Welt. München 2018.
Maul, Daniel: The International Labour Organization. 100 Years of Global Social Policy. Berlin 2019.
MacMillan, Margaret: Die Friedensmacher. Wie der Versailler Vertrag die Welt veränderte. Berlin 2018.
Pedersen, Susan: The Meaning of the Mandate System. An Argument. In: Geschichte und Gesellschaft 32 (2006). S. 560–582.