"Wir müssen an der Dekolonisierung unseres Inneren arbeiten"

Interview

Über die Entwicklungen in Südafrika nach der Überwindung der Apartheid und deren Auswirkungen auf die Zivilgesellschaft des Senegals sprachen wir mit Abdou Salam Wane vom Gorée Institut.

Lesedauer: 6 Minuten
Nelson Mandela Capture Site
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Nelson Mandela Capture Site bei Howick in Südafrika: Hier wurde Mandela am 5. August 1962 verhaftet.

Dieses Interview ist Teil unseres Dossiers Südafrika: 25 Jahre nach dem Ende der Apartheid.

Wie haben Sie die Konferenz von Dakar und später das Ende der Apartheid in Südafrika erlebt?

Ich war damals ein junger Student und für die Betreuung der Teilnehmenden der Konferenz zuständig. Ich habe schnell verstanden, dass Besonderes passiert, dass Geschichte geschrieben wird. Es waren zwei Völker, beide südafrikanisch, die sich in jeder Hinsicht feindlich gegenüberstanden und die plötzlich die Notwendigkeit des Dialogs sahen. Ich bin in Senegal aufgewachsen, wo wir seit langer Zeit über Dialog sprachen, vom Geben und Nehmen, wie unser erster Präsident Senghor es sagte. Ich konnte also spüren, dass etwas aus diesem Treffen erwachsen würde. Alle hatten es satt, wir wollten alle etwas anderes. Einige Jahre später, 1990, fand das berühmte Gipfeltreffen von France-Afrique in La Baule statt, in dem auch von Demokratisierung die Rede war. Es gab also eine Reihe von Geschehnissen, die wirklich dazu beitrugen, dass der Wind der Demokratie in Afrika wehte.

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1994 war dann ein sehr spezielles Jahr in Afrika. Ein Jahr voller Hoffnung und voller Angst. Fast zeitgleich fand der ruandische Genozid statt, in der auf Grundlage von ethnischer Identität massakriert wurde, und nicht weit weg befreite sich Südafrika von einem alten spalterischen Regime.

Die Hoffnung war wirklich, dass es eine multiethnische und demokratische Republik Südafrika geben würde und die Angst bestand darin, dass wir statt dieser schweren Geschichte und dieser einzigartigen Erfahrungen auf all das zurückfallen würden, was Afrika als negatives Bild anhängt.

25 Jahre nach der Apartheid müssen wir feiern, aber wir müssen vor allem eine Lesart entwickeln, die es uns Afrikaner/innen erlaubt, zu sehen, was wir aus der Geschichte lernen können. Deswegen müssen die Episoden dieser Geschichte von denjenigen erzählt werden, die daran beteiligt waren. Als Gorée Institut waren wir zwar nur indirekt beteiligt, aber gleichzeitig haben wir die Geschichte wirklich miterlebt.

Wie sieht das Gorée Institut die Entwicklungen in Südafrika, vor allem bezogen auf Fragen von Menschenrechten und guter Regierungsführung?

Die Geschehnisse in Südafrika haben dazu geführt, dass heute selbst die Mehrheit derjenigen, die lautstark nach Unabhängigkeit und Autonomie gerufen haben, die der neuen demokratischen Ära quasi steckengeblieben sind. Wenn man es genau betrachtet, wozu hat der Kampf beigetragen? Sicher, die schwarze Bevölkerung wird nicht mehr auf bestimmte Räume eingeschränkt, es gibt kein segregationistisches Regime mehr, das Ehen zwischen weißen und schwarzen Südafrikaner/innen verbietet – diese ganze Architektur der Rassentrennung gibt es nicht mehr. Aber was hat die südafrikanische Bevölkerung daraus gezogen - abgesehen von Freiheit? Aber kann man wirklich von Freiheit sprechen, wenn man Hunger leidet und nicht einmal seine grundlegendsten Bedürfnisse befriedigen kann?

Aber eine Lektion, die uns, den Afrikaner/innen, das Jahr 1994 und sogar bereits das Jahr 1987 geboten hat, ist, dass wir uns auf uns selbst verlassen müssen.

Südafrika hat sich aus eigener Kraft aus diesem Wespennest befreit. Aus dieser Geschichte zog das Gorée Institut die Notwendigkeit einer autarken Politik, welche zur ideologischen Grundlage unserer Organisation geworden ist: Eine politische und intellektuelle Autarkie. Leider denken wir heute oft, dass die Lösungen unserer Probleme von außen kommen werden. Wir haben es versäumt, uns diese Lektion der Südafrikaner/innen zu bewahren. Sie haben ihren Dialog unter Südafrikaner/innen gefunden, selbst wenn die Welt sie auf die ein oder andere Weise dazu gedrängt hat. Sie konnten sich auf die wirklich wichtigen Dinge einigen, auf die Einführung einer demokratischen und multiethnischen Gesellschaft. 

Wie beurteilen Sie die Auswirkungen der Überwindung der Apartheid auf den Kontinent heute, ein Vierteljahrhundert später? Vor allem: Welche Auswirkungen hatten die Geschehnisse in Südafrika auf die Zivilgesellschaft Senegals?

Senegal ist traditionell bekannt als Land des Dialogs und der Öffnung, durch unsere Ideologie der Téranga (Gastfreundschaft). Alle menschlichen Beziehungen müssen vor allem anderen von Dialog gekennzeichnet sein. Wenn man überall den Deckel drauf halten möchte, wird eines Tages ein geringfügiger Vorfall alles explodieren lassen. Deswegen müssen wir uns über die Bedingungen von Offenheit einigen, anstatt Offenheit mit Gewalt zu verhindern.

Die Zivilgesellschaft ist von staatlichen Akteuren nicht immer gut angesehen. Politiker/innen sehen die Zivilgesellschaft als Konkurrenz, dabei ist sie das Bindeglied zwischen Bürger/innen und Staat, sie hat also eine vitale und komplexe Rolle zu spielen. Deswegen darf die Zivilgesellschaft nicht aufhören, die Mängel des Staates anzuprangern. Der Kampf, den die Akteur/innen der Zivilgesellschaft führen, ist - mit einigen Ausnahmen - ein nobler Kampf.

All das trägt dazu bei, dem Staat und der Bevölkerung zu sagen, dass es Dinge gibt, die wir zusammen tun müssen, denn wir sind alle Teil der selben Gemeinschaft. Aber es gibt Bereiche, in denen diese Offenheit bisher nicht besteht. In der Definition von Nation steckt der gemeinschaftliche Wille, zusammenzuleben. Und Zusammenleben beinhaltet, dass man sich Dinge ins Gesicht sagen kann, zum Wohle der Gesellschaft.

Was hat der Sieg gegen die Apartheid den Südafrikaner/innen und auch den Senegales/innen gebracht?

Die Senegales/innen haben alle Nelson Mandela aus dem Gefängnis kommen sehen, sie haben gesehen, wie er seinen Eid als erster schwarzer Präsident der Regenbogennation ablegte. Das sollte unseren Politiker/innen eine Lehre sein. Es sollte ihnen zeigen, dass es leider immer noch eine Art Apartheid in unseren Staaten gibt, in dem Sinne, dass diejenigen, die unsere Staaten regieren, immer noch denken, sie könnten alles für die eigenen Interessen missbrauchen.

Wir müssen also auch in gewissem Sinne an der Dekolonisierung unseres Inneren arbeiten. Die Südafrikaner/innen konnten sich insofern dekolonisieren, dass sie jetzt in einer Demokratie leben, die Folgen der Apartheid sind aber noch immer spürbar. Nur wenige Menschen der schwarzen Mehrheit in Südafrika sind heute aufgrund positiver Diskriminierung vermögend. Aber wen repräsentieren diese Menschen, angesichts einer großen Masse von Südafrikaner/innen, die immer noch in Armut leben?

Man gewinnt etwas und im selben Atemzug verliert man etwas. Letztlich geht es darum, dass sich Gewinn und Verlust die Waage halten. Aber ich glaube nicht, dass dies in Südafrika der Fall ist, und noch weniger hier bei uns.

In den vergangenen Jahren kam es in Südafrika immer wieder zu  Attacken und Gewalt gegen Menschen aus anderen afrikanischen Ländern, wie Simbabwe, Somalia und der Demokratischen Republik Kongo. Wie erklären Sie sich das?

Die große Mehrheit der Schwarzen in Südafrika konnte bisher nicht von der Demokratie profitieren und häufig wendet sich der Blick dann gegen Ausländer/innen, die gewissermaßen als Eindringlinge betrachtet werden. Dabei brauchten die Südafrikaner/innen diese Länder, deren Staatsbürger/innen sie heute nicht in Südafrika haben wollen, um die notwendige Unterstützung für die Überwindung der Apartheid zu bekommen, so wie Zaire (heute Demokratische Republik Kongo). Es gab kaum afrikanische Länder, die damals nicht den ANC in seinem Kampf gegen das Apartheitsregime unterstützt hat.

Diese Situation ist bedauernswert, aber keine menschliche Gesellschaft war je frei von solchen Phänomenen. Wir müssen Gewalt überwinden, aber wir müssen auch sehen, dass die Menschen in Südafrika viel zu lange nur Gewalt gekannt haben.

Dieses Interview ist Teil unseres Dossiers Südafrika: 25 Jahre nach dem Ende der Apartheid.