7. Mai 1989: In Leipzig, Berlin und andernorts protestieren Bürger/innen der DDR gegen den Wahlbetrug bei den DDR-Kommunalwahlen. Die Aktionen waren ein Zündfunke für die friedliche Revolution im Herbst 1989.
Die Nerven der Leipziger SED-Führung lagen blank in den ersten Maitagen des Jahres 1989, denn ihre Spitzel hatten drohendes Ungemach gemeldet: Kritische Geister planten, die Jubelstimmung am Tag der DDR-weiten Kommunalwahlen am 7. Mai 1989 zu stören.
Jeder und jede in der DDR wusste, dass es bei realsozialistischen „Wahlen” noch nie mit rechten Dingen zugegangen war und die 99,5 oder auch 99,9 Prozent Ja-Stimmen dem Wunschdenken der SED entsprangen, nicht dem Willen der Wähler/innen. Dennoch schienen sich die DDR-Bürger/innen mit dem Ritual des „Zettelfaltens” nach 40 Jahren Realsozialismus abgefunden zu haben.
Aber eben nicht alle. „Kommen Sie am Wahltag um 18 Uhr auf den Markt am Alten Rathaus“, hieß es in über 1000 heimlich gedruckten Flugblättern, die Anfang Mai 1989 in der Pleisse-Stadt zirkulierten: „Bringen Sie bitte statt eines Stimmzettels ein weisses Blatt Papier mit, als Zeichen der Ablehnung der bestehenden Wahlordnung.” Mit selbstgeklebten Plakaten riefen andere SED-Kritiker/innen für den Wahltag zu einer Schweigedemo gegen die Scheinwahl am Völkerschlacht-Denkmal auf.
Widerspruch gleich Kriegserklärung
Für die SED kam solcher Widerspruch einer Kriegserklärung gleich. Der Hauptinitiator des Flugblatts, ein Student, wurde umgehend von der Universitätsleitung einbestellt und zusammengestaucht. Sicherheitshalber lud ihn auch der Staatsanwalt zum „Vorbeugungsgespräch”. Für den 7. Mai wurde zudem seine „Einbindung“ in „studienbetriebliche oder gesellschaftliche Aufträge“ veranlasst. Andere Verdächtige wurden faktisch unter Hausarrest gestellt, die Organisatoren der geplanten Völkerschlacht-Demo verhaftet und zu 14 und 18 Monaten Gefängnis verurteilt.
Um potenzielle Demonstrant/innen abzuschrecken, streute die Stasi in den Tagen vor der Wahl perfide Gerüchte: Bewaffnete Kampfgruppen seien zum Einsatz bereit, Internierungslager für Demonstranten und Demonstrantinnen würden in Espenhain eingerichtet. Um den Kreis etwaiger Protestierender weiter zu verkleinern, wurden kurz vor der Wahl knapp 2000 ausreisewillige Leipziger/innen in den Westen abgeschoben.
Auβerdem beraumten die SED-Genossen für den 7. Mai kurzerhand ein Volksfest im Leipziger Zentrum an. Als „Höhepunkt zum Ausklang des Wahltages” angepriesen, sollte es tatsächlich Proteste im Trubel untergehen lassen und den Sicherheitskräften, elf Diensthunde inklusive, Deckung geben. Bei den wenig zum Feiern aufgelegten Bürger/innen musste die Volksbelustigung allerdings noch „kurzfristig popularisiert” werden.
Vom Wahlprotest zur Massendemo
Am Abend des 7. Mai fanden sich in Leipzig so nur rund 50 Demonstrant/innen auf dem Alten Markt ein. Doch dann geschah etwas, das alles änderte. Als die Sicherheitskäfte zuschlugen, ergriffen Besucher/innen des Volksfests plötzlich lautstark Partei für die Demonstrierenden. Dasselbe Phänomen wiederholte sich am folgenden Tag vor der nahegelegenen Nikolaikirche, als Stasi und Vopos Teilnehmer/innen des traditionellen Montagsgebets, Thema natürlich die Wahlen, einkesselten und festzunehmen versuchten. Der Funke zwischen den Kritiker/innen der SED-Herrschaft und der breiten Bevölkerung war übergesprungen.
Und dies galt nicht nur für Leipzig, wo die Ereignisse um den Wahltag die Montagsdemonstrationen des Herbstes im Kleinen vorwegnahmen, sondern DDR-weit. In Berlin etwa fanden ab Juni 1989 an jedem Monatssiebten oppositionelle „Wahldemos“ statt, die zum Vorläufer der Massendemonstrationen des Herbstes wurden, mit denen sie schliesslich verschmolzen. Aus der Wahldemo auf dem Alexanderplatz am 7. Oktober entwickelte sich der erste Massenprotest in der Hauptstadt der DDR. Tausende Demonstranten und Demonstrantinnen umrundeten an diesem Abend mit dem Ruf „Wir sind das Volk!” den Palast der Republik und bereiteten der versammelten DDR-Elite, die dort mit Ehrengästen aus dem gesamten sozialistischen Lager den 40. Jahrestag der DDR feierte, die gröβte vorstellbare Demütigung. Elf Tage später fiel Erich Honecker als SED-Generalsekretär, drei Wochen nach ihm die Mauer.
Nominierungsrecht für Kaninchenzüchter
Wenn irgendein Datum den Anfang vom Ende der kommunistischen Diktatur im Ostteil Deutschlands markiert, dann ist es der 7. Mai 1989. Aber was hatte die Ereignisse um die DDR-Kommunalwahl zu dem Katalysator gemacht, welcher den schleichenden Prozess der Entfremdung zwischen SED-Oberen und DDR-Untertanen explosionsartig beschleunigte?
Zunächst waren da die krassen Fehleinschätzungen der SED. Honecker, Mielke, Krenz und Co. wollten die Kommunalwahl zu einem Anti-Perestroika-Referendum machen und den reformfreudigen Sowjets, Ungarn und Polen zeigen, dass die Ostdeutschen fest hinter dem konservativen „Sozialismus in den Farben der DDR“ standen. Die Falle, die sie sich so selbst stellte, erkannte die SED nicht. Sie hätte sonst wohl nicht gezögert, die Kommunalwahl einfach ausfallen zu lassen - 1954 hatte sie genau dies schon einmal getan.
Um zu zeigen, wie demokratisch die DDR sei, verfügte die SED unter anderem, das Freiwillige Feuerwehren und Kanichenzüchtervereine Kandidat/innen für die Einheitsliste aufstellen dürften. Bei DDR-Bürger/innen sorgte das vor allem für beiβenden Spott. In einer Nacht-und-Nebel-Aktion führte die SED ausserdem das kommunale Ausländerwahlrecht ein - weil das in der Bundesrepublik gerade heftig umstritten war und die DDR somit gegenüber der BRD besonders progressiv dastand. Mannigfachen Eingaben zufolge teilten viele Ostdeutsche diese Sicht mitnichten.
Parallelität der Ereignisse
All dies war viel zu wenig und auch viel zu spät. Angesichts der Reformwelle, die durch manche „Bruderländer“ schwappte, wirkte es auf viele Bürgerinnen und Bürger hilflos oder gar wie eine Provokation. Im Mai 1988 hatte das ZK der KPdSU höchstselbst die „freie Aufstellung von Kandidaten“ gefordert, woraufhin der Oberste Sowjet am 1. Dezember ein liberalisiertes Wahlrecht verabschiedete. Bei den Wahlen in der UdSSR im März 1989 fielen prompt zahlreiche offizielle Kandidat/innen durch.
Unmittelbar zuvor, im Februar 1989, hatte in Ungarn die dortige KP ein Mehrparteiensystem akzeptiert; die Ausarbeitung eines pluralistischen Wahlrechts war im Gange. in Polen hatten ebenfalls im Februar Verhandlungen zwischen KP und Opposition am „Runden Tisch“ begonnen, der sich am 5. April 1989 auf einen halb freien Wahlmodus einigte. Die Neuwahl des Sejm wurde für Juni angesetzt.
Vor allem diese Parallelität der Ereignisse verlieh den sonst eher wenig bedeutsamen DDR-Kommunalwahlen enorme symbolische, und damit politische, Sprengkraft. In der gesamten DDR begannen sich oppositionelle Gruppen ab etwa Sommer 1988 mit der Wahl zu beschäftigen. Viele wollten die SED beim Wort nehmen und mit dem DDR-Wahlgesetz unter dem Arm entweder die formal festgeschriebenen Teilhaberechte erstreiten - oder die DDR-Führung als scheinheilige Rechtsbrecher bloßstellen.
Frontale Ablehnung
Die Schwierigkeiten für regimekritische „Wahlkämpfer“ begannen damit, dass das DDR-Wahlgesetz nicht frei erhältlich war. Hatten sie es ergattert und beriefen sich auf dessen – oft erstaunlich demokratisch klingende – Paragraphen, lernten sie schnell, dass der Text Makulatur war. Kritische Fragen bei Kandidatenvorstellungen wurden als „Provokation” verhindert oder mit Repressionen beantwortet. Versuche unabhängiger Gruppen, Kandidaten und Kandidatinnen für die Einheitsliste vorzuschlagen, waren laut MfS-Weisung vom 19. Januar „konsequent zu unterbinden“ - obwohl Paragraph 17 DDR-Wahlgesetz doch „Kollektiven“ dieses Recht gab.
Die frontale Ablehnung ihres – oft durchaus ernst gemeinten – Versuchs, der SED-Scheindemokratie einen Anflug echter Teilhabe einzuhauchen, ließ für viele DDR-Bürgerinnen und -Bürger nur einen Schluss zu: Wenn nicht mit ihnen, dann eben gegen sie.
Praktisch hieß dies, den Funktionären am 7. Mai genau auf die Finger zu schauen und sich politisch selbst zu organisieren. Ab Anfang 1989 begannen ersten Vorarbeiten für die Aufstellung von oppositionellen Kandidat/innen auf eigenen Listen. Ein kirchlicher Friedenskreis in Ost-Berlin forderte im Januar zu prüfen, wie „Vereinigungen zu schaffen sind, die in der Lage sind, eigene Kandidaten… aufzustellen“. Im Februar brachte der evangelische Pfarrer Markus Meckel (später letzter Auβenminister der DDR) erstmals öffentlich die Idee einer Oppositionspartei in die Diskussion.
Hochgradig professionelle Vorbereitung
Im April dann konstatierte das oppositionelle „Grün-ökologische Netzwerk Arche“, da die SED kritische Geister auf ihrer Liste nicht dulde, müsse man eben zur Volkskammerwahl 1990 mit einer eigenen „Grünen Liste“ antreten. Konkret wurde man auch gleich; eine Arbeitsgruppe sollte bis Anfang Juni Kandidat/innen finden. „Durch die ‘Grüne Liste’ soll die ‘Arche’ zu einer parteiähnlichen Vereinigung werden“, vermerkte ein Spitzelbericht. „Es wird ein .. Papier erarbeitet, das eine Wahlplattform bilden soll.“
Die eigentliche politische Dynamik aber erzeugte nun die Wahlkontrollbewegung. Schon bei den Volkskammerwahlen 1986 war Oppositionellen im sächsischen Coswig und in Ost-Berlin der Nachweis systematischer SED-Wahlfälschungen gelungen. Eine politische Breitenwirkung hatte das nicht erzeugt. Im Mai 1989 lieferte die Wahlkontrolle den Zündfunken der Revolution. Was war anders?
Zum einen legten die „Wahlkämpfer“ von 1989 eine hochgradig professionelle Vorbereitung hin. Zum Teil begannen die Planungen für die Wahlkontrolle mehr als ein Jahr vor dem Wahltag. Die Lage Hunderter Wahllokale wurde systematisch erkundet. Freiwillige wurden auf eigenen Veranstaltungen geworben und geschult. Es gab Merkblätter mit rechtlichen Hinweisen, Formblätter zum Eintragen der Ergebnisse und Auswertungsraster zu deren Aufbereitung. In Ost-Berlin bestand ein „unabhängiges Wahlbüro“ bei dem die Ergebnisse zusammenliefen, junge Punks der „Kirche von Unten“ fungierten als Kuriere.
Treibsatz zur Ereignisbeschleunigung
Entscheidend aber war, dass es zum ersten Mal zu einer Aktionseinheit zwischen höchst unterschiedlichen Gruppen kam. Auch wenn sie ansonsten Distanz hielten - reformkommunistische Intellektuelle und Antragsteller/innen auf Ausreise, bürgerliche Christ/innen und staatsverachtende Anarchist/innen, Systemtreue im Loyalitätskonflikt oder materiell Unzufriedene einte im Mai 1989 als kleinster gemeinsamer Nenner das Ziel, die Wahl zum Lackmustest für die SED zu machen. Insbesondere ohne die vielen Ausreiser wäre die Wahlkontrolle flächendeckend wohl nicht gelungen.
Am Wahlabend vesammelten sich in den Räumen der Elisabeth-Kirche in Berlin-Mitte mehrere Hundert oppositionelle Aktivistinnen und Aktivisten zu einer „Wahlparty“. Die nach und nach eintreffenden Kontrolleur/innen berichteten aus den Wahllokalen und immer häufiger fiel dabei ein Wort: „Wahlbetrug“. Als im DDR-Fernsehen das vorläufige Endergebnis von knapp 99 % verkündet wurde, erfüllte höhnisches Gelächter den Raum.
Diese dreiste Lüge konnte so nicht stehenbleiben. Um ein Uhr morgens war eine Erklärung formuliert und an anwesende West-Journalist/innen übergeben: Nach den Ergebnissen der unabhängigen Kontrolle „liegt Wahlfälschung vor“, hieß es darin, die Kandidat/innen sollten deshalb ihre Mandate nicht annehmen. Noch in der Nacht wurde eine „Koordinierungsgruppe Wahlen“ gegründet, um Proteste gegen den Wahlbetrug zu organisieren.
Der Treibsatz, der die Ereignisse auf ungeahnte Weise beschleunigen sollte, war gezündet.