Auf der Suche nach verlorenen Schlüsseln

Diskussionsbeitrag

Kurz vor ihrem Tod erinnerte die Grünen-Politikerin Antje Vollmer an verpasste Chancen einer vorausschauenden Friedenspolitik - ein Debattenbeitrag von Martin Zülch.

Die Skulptur einer Pistole aus Metall, deren Lauf verknotet und nach oben gebogen ist.

Das politische Wirken der ehemaligen Bundestagsvizepräsidentin Antje Vollmer hat konträre Reaktionen ausgelöst: Während der Kolumnist Heribert Prantl sie als Politikerin würdigte, „die in ihrer ganzen politischen Laufbahn für Versöhnung geworben hat“, wurde sie in der taz (17.März 2023) bezüglich ihres späteren Wirkens zu einer „diasporischen Figur in ihrem grünen Umfeld“ stilisiert. Zudem versah die Redaktion den Nachruf auf der Titelseite mit der Schlagzeile „Ruhe in Frieden“: Kann das auch heißen „Nun stört sie niemand mehr“, „uns lässt sie jetzt in Ruhe“?

Drei Wochen vor ihrem Tod veröffentlichte Vollmer in der Berliner Zeitung einen Essay, der als „Vermächtnis einer Pazifistin“ anzusehen ist und manche Leser*innen irritiert haben dürfte. Denn seit Beginn des Ukraine-Kriegs wurde kaum anderswo so klar das historische Gegenstück zu Putins Kriegsverbrechen hervorgehoben: die unter Michail Gorbatschow „nahezu gewaltfreie Auflösung des Sowjetimperiums“, „Russlands große Vorleistung des Gewaltverzichts“ im Jahr 1989 sowie eine friedensstiftende Politik, die seit Mitte der 1980er Jahre fast ohne historische Vorbilder das „größte Wunder in einer Reihe wundersamer Ereignisse“ vollbracht habe.    

Solch eindringliche Charakterisierung war offenbar nötig. Denn damit werden Rückblicke hinterfragt, die sich auf Gorbatschows politisches Scheitern konzentrieren. Vollmer erinnert uns hingegen daran, dass die Bürgerrechtsbewegung in der DDR nur mit Unterstützung des russischen Staatspräsidenten erfolgreich sein konnte. Daraus ergibt sich ein deutlich differenzierteres Bild: Gorbatschows Regentschaft wurde zwar durch die zerrütteten Verhältnisse in der Sowjetunion begünstigt, gleichzeitig musste er sich aber gegenüber vielen Widerständen, insbesondere der orthodoxen Parteikader durchsetzen. Noch im Februar 1990 schien ein Putsch möglich: Russische Generäle plädierten dafür, die Protestbewegung in der DDR blutig niederzuschlagen. Damals trugen dieser Gefahr auch westdeutsche Hilfskredite zur Rettung der russischen Staatsfinanzen in Höhe von 20 Mrd. DM Rechnung, die im Rahmen der Zwei plus Verhandlungen zur Wiedervereinigung zugesichert wurden.

Zudem prangert Vollmer die seinerzeit vorherrschende Siegesgewissheit an. Sie entlarvt die Annahme, der Westen habe im Systemkonflikt mit dem Osten einen „triumphalen Sieg“ errungen, als „fatale Überheblichkeit“: Diese Hybris sei die „Hauptursache“ dafür gewesen, den enormen Handlungsbedarf für eine neue gesamteuropäische Friedensordnung zu verkennen. Damals gaben sich westliche Politiker*innen nur mit vagen Versprechungen eines inklusiven Sicherheitssystems zufrieden, während der US-Präsident George H. W. Bush längst ein exklusives NATO-Konzept ohne Beteiligung Russlands festgelegt hatte. Nach Ansicht des früheren EU-Kommissars Günter Verheugen wäre es dennoch möglich gewesen, Gorbatschows Idee vom gemeinsamen „Europäischen Haus“ aufzugreifen, die NATO als transnational ausgerichtetes und nicht mehr von den USA dominiertes Verteidigungsbündnis neu zu gründen und so auf die Auflösung des Warschauer Pakts eine konsistente Antwort zu geben.

Wenn im Weiteren Antje Vollmer darauf hinweist, dass 1989 die Europäische Gemeinschaft dem Vielvölkerstaat Jugoslawien eine Mitgliedschaft hätte anbieten und sich dadurch dem auf dem Balkan aufkeimenden kriegerischen Nationalismus hätte widersetzen können, so wirken heute solche Hinweise wie aus der Zeit gefallen. Doch zeigt sich hier ein Zugang zur Zeitgeschichte, bei dem ihre günstigen Momente für konstruktive Alternativen und Weichenstellungen Beachtung finden. Solche „guten Gelegenheiten“ werden auch Kairos-Phasen genannt, um damit hervorzuheben, dass sie genutzt werden müssen. Geschieht dies nicht, so drohen politische Fehlentwicklungen oder gar Rückfälle in die Barbarei. 

Dass hierfür die engagierte Theologin ein besonderes Gespür entwickelt hat, erscheint plausibel – so auch, dass sie für die von ihr genannten verpassten Chancen die Schlüsselmetapher verwendet: „Gerade die Grünen, meine Partei, hatten einmal alle Schlüssel in der Hand zu einer wirklich neuen Ordnung einer gerechteren Welt.“ Ausgehend von diesem Sinnbild führt sie hierzu deren frühere Unabhängigkeit von der „Blocklogik des Kalten Krieges“, ihren Kampf gegen „Aufrüstung in Ost und West“ sowie ihre Kritik am „ungebremsten Wirtschaftswachstum“ an. Zudem sah sie in den 1980er Jahren große Chancen für ein „festes Bündnis zwischen Friedens- und Umweltbewegung“.

Sind solche Schlüssel inzwischen abhanden gekommen? Während die Grünen vorbehaltlos eine militärische Strategie zur Beendigung des Ukraine-Kriegs verfolgen, begnügt sich ein Großteil der Friedensbewegung ebenso vorbehaltlos mit einem prinzipientreuen Pazifismus, wie ihn auch Vollmer propagierte. Diese strikte Entgegensetzung mag einer der Gründe dafür sein, warum bislang keine wirksame Allianz zwischen der Friedens- und Klimabewegung, Umwelt- und Menschenrechtsorganisationen zustande gekommen ist – ein breites Bündnis, das sich für eine duale Deeskalationsstrategie einsetzt: für eine militärische Unterstützung der Ukraine mit Augenmaß, d.h. klaren, auf die Wiederherstellung des Status quo ante vom 23.Februar 2022 begrenzten Kriegszielen, sowie für Verhandlungsangebote, in denen u.a. zukunftsweisende Vorschläge zur Bewältigung der Klimakrise berücksichtigt sind.

Gorbatschow hat sich zeitlebens an Kairos-Momenten orientiert. Seine Warnung „Wer zu spät kommt, den bestraft das Leben“ sollte uns im Kontext der hierzu von Antje Vollmer aufgeführten Befunde nicht „in Ruhe lassen“.

Quellen

Antje Vollmers Vermächtnis einer Pazifistin: „Was ich noch zu sagen hätte“, Berliner Zeitung, 23.2.2023

Harald Neuber, Interview mit Antje Vollmer (Teil 1), „Für mich hat der Krieg in den Köpfen spätestens 2008 und erst recht 2014 begonnen“, Telepolis, 15.11.2022

Harald Neuber, Interview mit Antje Vollmer (Teil 2), "Auch die Ökologen müssen sich irgendwann entscheiden", Telepolis, 15.11.2022

Titelseite der taz mit der Schlagzeile „Ruhe in Frieden“ vom 17.3.2023

Jan Feddersen, Nachruf auf Antje Vollmer: Streitbare Pazifistin taz, 16.3.2023

Heribert Prantl, Das Testament einer grünen Pazifistin , heribertprantl.de , 26.2.2023

 Zwei plus Vier Vertrag Wikipedia

 Christian Nünlist, Krieg der Narrative – Das Jahr 1990 und die NATO-Osterweiterung, DeGruyter, 14.12.2018

 Bernd Greiner, Was die USA seit 1945 in der Welt angerichtet haben, München 2021, S.163 ff.

Michael Maier, Interview mit Günter Verheugen: „Willentlich und wissentlich eine Linie überschritten“ , Berliner Zeitung, 11.2.2023

Gerhard Spörl, Michail Gorbatschow (†91): Der Mann, der sein eigenes Imperium zertrümmerte , t-online, 31.8.2022

Marc von Lüpke, Der Mann, der das „Reich des Bösen“ stürzte , t-online, 31.8.2022