Azadeh Sharifi forscht über Theater und Migration, Postkoloniale Theorie und dekoloniale Praktiken im Theater. In ihren Texten zeigt Sharifi anhand verschiedener Beispiele aus deutschen Theatern auf, dass Interventionen eine zentrale Rolle spielen können, um Counter-Diskurse zu eröffnen und marginalisierten Perspektiven Raum zu geben, die ansonsten kategorisch ausgeschlossen würden.
Ihrer Meinung nach sind Interventionen oftmals die einzige Möglichkeit für Künstler*innen und Kulturschaffende of Color, um auf koloniale Fortschreibungen aufmerksam zu machen und eigene Narrative entgegenzusetzen.
In ihrem Aufsatz „Antirassistische Interventionen als notwendige »Störung« im deutschen Theater“ (1) macht sie anhand einer Intervention, die 2014 am Deutschen Theater Berlin stattfand, deutlich, weshalb diese Störungen mehr als notwendig sind. Dort fand eine Konferenz statt, die sich mit den Zugangsbarrieren zu kulturellen Angeboten befasste. In Vorträgen und Workshops wurden Ideen und Konzepte präsentiert, wie ein niedrigschwelliger Zugang zur sogenannten Hochkultur hergestellt werden könnte. Dieser niedrigschwellige Zugang war laut Leitungsteam vor allem an Menschen mit „Migrationshintergrund“, Menschen mit Behinderungen und Menschen mit geringen Einkünften adressiert.(2) Problematisch an dieser Konferenz war unter anderem jedoch, dass nicht ein*e Redner*in eingeladen war, die/der sich mit Ausschlüssen und Marginalisierungen kritisch auseinandersetzt oder selbst betroffen ist. Als Reaktion darauf bildete sich das Bündnis kritischer Kulturpraktiker*innen, das auf diese Problematik durch eine Intervention auf der Konferenz hinwies. Im Sinne von Nothing about us without us (3) machten sie das Konferenzpublikum sowie die Veranstaltungsorganisator*innen durch eine unaufgeforderte Rede darauf aufmerksam, dass die personelle Besetzung der Konferenz von Diversität weit entfernt ist.
Interventionen versteht Sharifi als eine notwendige Form der postkolonialen Kritik, die auf die fehlende Reflexion der eigenen Machtposition hinweisen und die herrschende Ordnung hinterfragen. Nur durch das interventionistische Eingreifen kann die koloniale Logik an deutschen Kulturinstitutionen gestört und dekolonisiert werden.(4)
Vera Heimisch (VH): Liebe Azadeh, du bist eine der wenigen Wissenschaftler*innen, die über Interventionen im Kulturbetrieb schreiben und forschen, jedenfalls nach meiner bisherigen Recherche im deutschsprachigen Bereich. Aus welchen Gründen beschäftigst du dich mit diesem Thema? Und was ist dein Hintergrund, in welchen Forschungsfeldern arbeitest du?
Azadeh Sharifi (AS): Erst mal bin ich ja keine klassische Theaterwissenschaftlerin. Ich bin Germanistin und habe in Kulturwissenschaften promoviert, aber immer mit Bezug zum Theater, das hat sich wie eine rote Linie durchgezogen, vor allem ab der Doktorarbeit (5). Es ist auch sehr bezeichnend für Wissenschaftler*innen of Color in Deutschland – aber auch außerhalb –, dass wir auf ein Thema oder auf Themenfelder festgenagelt werden, am besten auf Themen wie Migration, Rassismus oder Religion. Und das war in meinem Fall genau dasselbe. Es war nicht meine Entscheidung mich mit Themen des Theaters und Migration zu beschäftigen, aber am Ende war das dann doch mein Glück, weil ich eine der wenigen, ersten Arbeiten dazu geschrieben habe, meine Dissertation. Wenn man sich mit diesen Themen beschäftigt, gibt es zwei Möglichkeiten: Einerseits, indem man sich distanziert und Wissenschaft betreibt, indem man diese kolonial geprägte objektive Brille aufsetzt und Dinge als Objekte von Weitem betrachtet, oder man ist positioniert, darin involviert, und das lässt sich nicht mehr trennen. Eine wissenschaftliche Arbeit leistet dann eben auch politische Arbeit, politische Arbeit im Sinne eines gesellschaftlichen Beitrags. Und das hängt ganz klar damit zusammen, dass ich nicht nur Theorie betreibe, sondern sehr nah an der Praxis bin, sehr nah am zeitgenössischen Theater. Das hat dazu beigetragen, dass ich mich als Wissenschaftlerin nicht in meinen Elfenbeinturm verkrochen habe, sondern eine Verpflichtung sehe, das, was ich mir als Wissen erarbeite, auch in bestimmten Kreisen zu teilen und mich auch politisch zu engagieren.
VH: Du bist also zugleich sowohl Wissenschaftlerin als auch Aktivistin?
AS: Ja, ich würde ich sagen, dass ich nicht nur Theaterwissenschaftlerin bin, sondern auch Aktivistin, und eben auch künstlerisch- kuratorisch im Theaterfeld tätig bin. Das hängt für mich zusammen, ich denke es zusammen und kann es auch nicht auseinanderhalten.
Ich verstehe Wissenschaft auch nicht als nur lesen, schreiben, forschen und Fragen aufwerfen, sondern möchte die Methodologie und Formate sowie Herangehensweisen mit Studierenden und marginalisierten Gruppen teilen. Ich verstehe meine Arbeit sehr politisch und aktivistisch.
Warum ich selbst über diese Themen schreibe, ist, weil eben nicht darüber geschrieben wird. Wenn du dir die Diskurse beispielsweise rund um Blackface (6) anschaust, oder die Repräsentation von Diversität in Kulturinstitutionen und wie Theaterkritiker*innen und Journalist*innen darüber schreiben, entspricht das einer sehr hegemonialen Darstellung. Es gab immer eine Diskrepanz in dieser Darstellung.
Aber was sind die Belange und Interessen derjenigen, die beispielsweise gegen Blackface protestiert haben? Es gab nie eine Anerkennung, dass diese Kritik sehr wohl in diesem Diskurs anzusiedeln ist. Dahinter liegt eine bestimmte historische und ästhetische Geschichte und das muss kontextualisiert werden. In Deutschland ist das bisher noch nicht passiert.
Das ist ein Desiderat, und das weist auf die Kolonialität der Strukturen hin, weil ein geschärfter, kritischer Blick darauf fehlt. Und das war auch der Anlass dafür, darüber zu schreiben. Die innere Wut, weil immer wieder die Kritik abgewiesen wurde und der genaue Blick und das kritische Auseinandersetzen immer gefehlt haben.
VH: Ja, die Kritik derjenigen, die intervenieren, wird ja meistens direkt delegitimiert und abgewehrt. Die strukturelle Ungleichheit zeigt sich in solchen Momenten dann noch deutlicher, zum Beispiel bei der Intervention im Deutschen Theater. Die Organisator*innen reagierten diffamierend auf die Kritik u.a., indem sie die Intervenierenden als ‚Off-Theaterschaffende‘ bezeichneten.
AS: Ja, Interventionen verstehe ich in solchen machtvollen Räumen eigentlich auch als einen der wenigen Momente, in denen auch diese Ordnungen durchbrochen werden können.
Das sind meine Beweggründe zu sagen, es gibt dazu zu wenig Forschung, es muss aufgearbeitet werden und dabei nicht immer nur zu untersuchen, warum es wichtig ist, zu intervenieren, sondern eben auch eine historische Genese des Ganzen herzustellen. Es ist wichtig, aufzuzeigen, dass eben nicht einfach nur ein paar Störer*innen ins Theater gehen und Remmidemmi machen.
Ein Beispiel ist die Intervention der Jüdischen Gemeinde in Frankfurt, das ist das erste Mal, dass diese Gemeinde überhaupt sichtbar geworden ist. Sie haben 1985 gegen die Inszenierung „Der Müll, die Stadt und der Tod“ von Rainer Werner Fassbinder protestiert. Das war so ein gravierender, machtvoller Moment, dass man diese Inszenierung so nicht mehr hinnimmt, diese Kontinuität von antisemitischer Darstellung oder eine Viktimisierung der Menschen. Diese Menschen protestierten, und natürlich waren es nicht die Theatermenschen, die sich da hingestellt haben, und das ist genau das, womit ich mich auseinandersetzen möchte. Die Expertise ist nicht nur da, wenn wir Bertolt Brecht gelesen haben oder Heiner Müller oder Rene Pollesch gesehen haben oder wissen, wer Rene Pollesch ist, sondern es geht eben auch darum, anzuerkennen, dass bestimmte kolonial-rassistische oder antisemitische Strukturen, der hegemoniale Blick, im Theater präsent sind. Denn es wird gar nicht kritisch hinterfragt, sondern gesagt: Wir sind doch kritisch im Theater!
VH: Seit der Veröffentlichung deines Texts sind 4 Jahre vergangen. Hast du das Gefühl, dass seither mehr Interventionen stattfinden, mehr gestört und öffentlich kritisiert wird? Wie ist deine Wahrnehmung?
AS: Ich würde sagen: nein. Bestimmte Diskurse und Interventionen waren in bestimmten Momenten wichtig, aber so langsam sind sie schon Teil des Mainstream Diskurses geworden. Das ist immer so, das ist das Prinzip des ‚Teile und Herrsche‘. Ein Teil wird aufgenommen, aufgesogen, etwas abgeschwächt, und dann geht es wie gehabt weiter. Natürlich gibt und gab es noch einige Interventionen, aber nicht mehr solche, die so gravierend sind. Aber es ist zum Beispiel ein Büro für Diversitätsorganisation in Berlin entstanden, das Diversity Arts Culture (7), aber das ist so auch einzigartig in Deutschland. Die Kämpfe werden weiter existieren, rassistische Praktiken existieren immer noch, das Humboldt Forum existiert immer noch. Es ist ein langsamer Prozess.
Aber Kolonialismus wird mittlerweile endlich thematisiert, es gibt eine Anerkennung der kolonialen Vergangenheit Deutschlands, im heutigen Deutschland kommt es mehr und mehr in den Mainstream. Für mich war 2015 die Anerkennung des Genozids der Herero und Nama ein wichtiger Moment. Es kamen endlich die Fragen nach Restitution und Reparation, die jetzt tatsächlich auch diskutiert und eingefordert werden. Ich glaube, das sind Wellen, und jetzt gerade sind wir auf einer Welle wo Einiges in Aufruhr ist. Durch die Morde an afroamerikanischen/ Schwarzen Menschen, wie George Floyd, kann man sich dem Ganzen einfach nicht widersetzen, und es führt dazu, dass wir diese Diskussion haben. Aber die Frage ist halt, wann ebbt es wieder ab, in welche Richtung geht es wieder zurück. Ich bin da sehr skeptisch.
VH: Ja, was ich sehr kritisch sehe, ist, dass es oft eher als Alibi diskutiert wird. Also der postkoloniale Diskurs ist ja derzeit in den Institutionen sehr präsent, es gibt überall diskursive Formate, Performances, Theaterstücke etc., aber ich frage mich, ob das dann jeweils eine einzelne Aktion ist, einmal der Themenschwerpunkt Postkolonialismus, weil es jetzt alle machen. Nichtsdestotrotz ist es natürlich generell wichtig, dass überhaupt darüber gesprochen wird. Und das ist etwas, was mich sehr beschäftigt. Also wie langfristig sind solche Projekte gedacht, und können und sollen sie wirklich die Strukturen verändern?
Aber zurück zu den Interventionen: Du schreibst, dass Interventionen für Marginalisierte eine Option sind, gehört zu werden, sich zu positionieren. Da frage ich mich, wer kann überhaupt in gewissen Situationen, an gewissen Orten intervenieren. Es ist ja nicht für alle Menschen gleichermaßen möglich zu intervenieren. Inwiefern ist eine Intervention eine Handlungsmöglichkeit für alle?
AS: Genau, gut, dass du die Frage gestellt hast. Denn die Menschen, von denen ich jetzt gesprochen habe, die in den Kulturinstitutionen interveniert haben, sind natürlich Menschen, die trotz allem Zugang dazu haben, die trotz allem Netzwerke und akademische Hintergründe haben, die das Privileg haben, diese Räume betreten zu können. Das heißt, wir sprechen also von einer ganz bestimmten class, von ganz bestimmten informierten Personen, von (angehenden) Akademiker*innen. Da kann man aber viel genauer hinschauen, denn Interventionen passieren überall, genau in diesem Moment. Das Widersetzen eines Menschen, der abgeschoben wird ist eine Intervention. Das Verweigern, das Erstreiten in einem Sozialamt für die eigenen Rechte ist eine Intervention.
Sie wird aber aberkannt und als Ungehorsam verstanden. Und zwar nicht als produktiver Ungehorsam, sondern als Ungehorsam von Menschen, die die Regeln nicht kennen. Und deshalb gibt es immer diese permanenten Forderungen nach Integration. Es ist also eher die Frage, wann wird eine Intervention als solche anerkannt.
Eine Kollegin von mir, Sruti Bala, schreibt tolle Texte, sie beschäftigt sich zum Beispiel mit Frauen in Indien, wie sie sich im Arbeitskontext gewissen Regeln und Normen widersetzen. Man muss aber genau hinschauen und anerkennen, dass das ein Widersetzen ist. Da kommen wir auch wieder zurück auf Gayatri Spivak. Wessen Stimme wird überhaupt gehört, wer wird überhaupt anerkannt als sprechende Person? Das ist natürlich problematisch. Wenn wir über Interventionen sprechen, dann sprechen wir natürlich meistens über Menschen, die den Zugang zu gesellschaftlichen Ressourcen haben. Es ist schwer, zu sagen, dass das Privilegien sind, weil ich glaube, dass es in vielen Fällen Menschen sind, die sich den Zugang erkämpft haben oder durch class diesen Zugang haben. Das heißt, noch mal zurück auf jemanden wie mich, ich glaube, meine Ausbildung ist auch nur möglich, weil ich ein bestimmtes kulturelles Kapital mitbringe und in solchen Situationen viele diesen Vorteil nicht haben und dann eben keine akademische Karriere machen. Wenn wir dann auf Interventionen zurückkommen, wird eben meine Stimme gehört, aber vielen Kolleg*innen wird das aberkannt.
VH: Ich hatte während meiner Recherche genau diese Erkenntnis, also dass Interventionen überall und tagtäglich stattfinden. Ich habe den Interventionsbegriff sehr eng verstanden und im Laufe der letzten Monate erst begriffen, dass es so viele Handlungen gibt, die Interventionen sind.
Ich frage mich aber auch: Was kommt nach der Intervention?
Du schreibst, es braucht Räume der Selbstermächtigung, wie zum Beispiel im Jahr 2008 die Wiedereröffnung des Ballhauses Naunynstraße (8) in Berlin durch Shermin Langhoff. Wie kann man nachhaltig etwas verändern und nicht nur für den Moment auf die Ungleichheit aufmerksam machen?
AS: Genau, also was kommt danach? Ja, das Ballhaus Naunynstraße war historisch gesehen essenziell für einen bestimmten Moment und hat ermöglicht, dass viele Künstler*innen, die nicht diesen klassischen Zugang haben, sich dort ausprobieren konnten, ihre künstlerische Karriere beginnen und entwickeln konnten. Und ich glaube, das ist der Punkt. Es ist ein Raum, der ermöglicht hat, dass Dinge passieren, dass es eine Selbstbestimmung in dem gibt, wie man sich selbst zeichnet. Dass man etwas schafft, was sich diesen Zuschreibungen von außen verweigert, das ist auf jeden Fall wichtig.
Aber Räume zu schaffen, bedarf Ressourcen, bedarf Menschen die an diese Ressourcen herankommen, die nicht nebenbei noch anderer Lohnarbeit nachgehen müssen. Daher ist eine Intervention wie damals im Deutschen Theater erstmal symbolisch.
Anstelle der Frage, was kommt danach, käme dann eher die Frage, wer ist denn in diesen Institutionen. Diversity Arts Culture setzt derzeit zum Beispiel durch, dass Gesetze und Verpflichtungen für die Institutionen eingeführt werden, damit diese eben gewisse Diskurse nicht nur für eine Spielzeit implementieren und dann sagen, von 2020-2021 haben wir uns mit postkolonialen Diskursen beschäftigt und jetzt gehen wir zurück zur Kunst, sondern, dass tatsächlich hinterfragt wird: Wer ist in diesen Strukturen tätig? Welche Themen werden behandelt? Welche Hierarchien bestehen? Die Macht und die Ressourcen liegen immer noch bei denjenigen, die sie seit jeher innehaben, es hat sich daran nichts geändert. Die Frage ist nun vielmehr: Kommen sie jetzt damit durch oder wird ihnen die ganze Zeit auf die Finger geschaut? Es reicht eben nicht mehr aus, Schwarze Künstler*innen einmalig für eine Produktion zu engagieren, sondern man muss darüber nachdenken: Wer kuratiert das Programm? Wie sind denn die Gehälter aufgebaut, und wer entscheidet, wer sitzt in den Gremien?
Ich glaube, das ist eine sehr langwierige Arbeit, das wird dauern.
VH: Gibt es denn derzeit Orte, Kulturinstitutionen, die dich überzeugen, wo du denkst, da findet bereits ein kritisches Hinterfragen statt?
AS: Nein, ich würde tatsächlich aus heutiger Sicht sagen, keine dieser Institutionen, kein einziger Ort überzeugt mich. Aber es gibt einige, vor allem kleinere Spielorte, wie die Gessnerallee in Zürich, da bin ich ganz gespannt, was da in Zukunft passiert. Viele Kulturschaffende setzten sich sehr kritisch mit ihren Strukturen auseinander, und suchen nach einer dekolonialen Herangehensweise, also nicht nur in Bezug auf race, sondern auch Fragen um Macht und Kapitalismus. An deutschen Staatstheatern habe ich aber zum Beispiel keine Hoffnung, dass sich da etwas ändert, die Strukturen sind das Problem.
VH: Ja, das denke ich auch. Der Theaterbetrieb im Stadttheater ist so hierarchisch aufgebaut wie eine Pyramide, mit starren Strukturen, und der Veränderungsprozess ist sehr langsam. Ich bin aber vor allem neugierig auf neue Stellen, die derzeit entstehen, zum Beispiel die der Stadtdramaturg*innen am Theater Dortmund.
AS: Ja, das interessiert mich auch. Das Stadttheater ist ein feudales System. Die Universität ist auch sehr hierarchisch, aber mein Chef hat mich noch nie in meinem Leben angeschrien. Im Kulturbetrieb sind Dinge möglich, das ist unglaublich. Ich weiß nicht, wie man unter solchen Bedingungen arbeiten kann.
Aber wenn ich mich mit Interventionen beschäftige, würde ich mittlerweile die Wissenschaft auch vielmehr einbeziehen, das hat auch mit meiner eigenen Position zu tun. Gerade ganz aktuell beschäftige ich mich, obwohl meine Arbeit ja eher die Theaterwissenschaft ist, mit meinem eigenen Feld, also der Universität und der academia, und zwar nicht nur mit der Frage: Wer hat Zugang dazu? Ich sehe derzeit zum Beispiel Initiativen aus England von Kolleg*innen, die fragen: Wo sind die Schwarzen Kolleg*innen, die Kolleg*innen of Color? Und in Deutschland ist die Situation wirklich gravierend und dramatisch schlecht. Ich habe das Gefühl, im Moment müsste man viel mehr auf dieses Feld einwirken, also in Bezug auf Interventionen.
Da müssen Dinge passieren, das akademische Curriculum muss sich ändern, wir müssen darüber reden, was wir unterrichten und was auf dem Lehrplan steht, welches Wissen wir vermitteln und unseren Studierenden auch abverlangen. Dazu gehört auch die Frage, wer in der Universität ganz oben ist, welchen Rang hat er/sie, welche stabilere oder prekärere Position. Das sind die Dinge, mit denen ich mich gerade beschäftige, weil ich das Gefühl habe, ich habe lange genug auf das Theaterfeld geschaut, aber meine eigene Disziplin, die Wissenschaft, ist problematisch: Wer hat eine Stelle als Professor*in, wer hat nur einen Lehrauftrag? Und wer hat eigentlich nur eine prekäre Position, wird aber auf der Webseite gezeigt? Für mich hängt das alles zusammen.
VH: Den Eindruck habe ich auch– es gibt auch in der Wissenschaft viele Strukturen, die aufgebrochen werden müssen. Interventionen wären sicherlich auch dort eine gute Möglichkeit, um neue Denkräume und Handlungsmöglichkeiten zu eröffnen. Es gibt also noch wirklich viele Räume, in denen Störungen notwendig sind. Ich bin sehr gespannt auf deine weiteren Arbeiten Azadeh! Vielen Dank für das Gespräch.
Fußnoten:
1 Sharifi, Azadeh (2018): Antirassistische Interventionen als notwendige »Störung« im deutschen Theater. In: Hill, Marc/ Yildiz, Erol (Hg.): Postmigrantische Visionen. Erfahrungen, Ideen, Reflexionen. Bielefeld: Transcript-Verlag. 207–222
2 Ebd./ Ibid.
3 ‚Nothing about us without us‘ ist ein Slogan, der verdeutlicht, dass keine Entscheidungen über marginalisierte Gruppen getroffen werden, ohne dass die Betroffenen selbst mit einbezogen werden in den Prozess.
4 Vgl. Sharifi, Azadeh (2020): Providing what is missing. Postmigrantisches Theater und Interventionen. In: Deck, Jan / Umathum, Sandra (Hg.): Postdramaturgien. Berlin: Neofelis-Verlag. 46–55 (48f)
5 Sharifi, Azadeh (2011): Theater für alle? Partizipation von Postmigranten am Beispiel der Bühnen der Stadt Köln. Bern: Peter Lang-Verlag.
6 Blackface beschreibt eine theatrale Praxis, die auf US-amerikanische Minstrel-Shows des 19. Jahrhunderts zurückgeht. Blackface wird betrieben, indem weiße Performer*innen ihr Gesicht und ihren Körper schwarz anmalen, um Schwarze Figuren in stereotypischer Art darzustellen. Diese rassistische Praktik wird auch heute noch betrieben.
(vgl. Sharifi, Azadeh (2020): Providing what is missing. Postmigrantisches Theater und Interventionen. In: Deck, Jan / Umathum, Sandra (Hg.): Postdramaturgien. Berlin: Neofelis-Verlag. 46–55 (46))
7 Diversity Arts Culture, Berliner Projektbüro für Diversitätsentwicklung. / Berlin Project Office for Diversity Development.
URL: http://www.diversity-arts-culture.berlin (15.07.2020)
8 Das Ballhaus Naunynstraße ist ein Berliner Theater mit einem Schwerpunkt auf postmigrantischem Theater.
URL: http://ballhausnaunynstrasse.de (20.07.2020)
Biographie Sharifi:
Azadeh Sharifi ist Theaterwissenschaftlerin und an der Ludwig-Maximilian-Universität München assoziiert. Sie beschäftigt sich mit Theater und Migration, Postkoloniale Theorie und dekoloniale Praktiken im Theater sowie feministische und intersektionale Performances. Sie war u.a. Fellow am Internationalen Forschungskolleg ‚Interweaving Performance Cultures‘ an der FU Berlin. Sie lehrt an der LMU München, HBK Braunschweig und Universität Wien. Zudem arbeitet sie aktivistisch und kuratorisch im Theater, u.a. beim Augenblick Mal! Festival 2017 und Politik im Freien Theater München 2018. Sie ist Board Member des Future Advisory Board (Fab) der Performance Studies international (PSi).