WEGEN CORONA VERSCHOBEN. Dienstag, 24. März 2020, 18:00 Uhr, F61-Raum im Hof, Fehrfeld 61, Bremen. Władysław Panas, einer der bedeutendsten polnischen Literatur- und Kulturwissenschaftler in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts, hat mit seinem Essay "Das Auge des Zaddik" (1994) ein Meisterwerk der Gedächtnisarchäologie vorgelegt. Dr. Lothar Quinkenstein, Übersetzer dieses Essays aus dem Polnischen, spricht über das jüdische Polen, den "Seher von Lublin" und das mystische Potential der Erinnerung, das dieser zeitlose Essay uns bietet.
Im 18. Jahrhundert wurde Lublin dank des Zaddiks Jakub Icchak Horowitz, des "Sehers von Lublin", zu einem der wichtigsten Zentren des Chassidismus (mystische Bewegung, die auf den Baal Schem Tow zurückgeht) im ganzen Land. In der deutschsprachigen Literatur setzte Martin Buber dem Kreis um den "Seher" ein literarisches Denkmal mit seinem Buch "Gog und Magog".
Im Jahre 1931 lebten 38.937 Juden in Lublin, was 34,6 % der Stadtbevölkerung ausmachte.
Während des Zweiten Weltkriegs war Lublin der Sitz der deutschen Besatzungsmacht für den ganzen Distrikt. Von hier aus wurde die "Aktion Reinhardt" gesteuert, mit der die "Endlösung" Wirklichkeit werden sollte. Zwischen dem Frühjahr 1942 und dem Herbst 1943 wurden fast 2.000.000 polnischer Juden ermordet. Die Deportationen in die nationalsozialistischen Vernichtungslager begannen im Ghetto von Lublin.
Von den etwa 40.000 Juden, die vor dem Krieg in Lublin lebten, haben laut Schätzungen nur ca. 1200 den Massenmord der deutschen Besatzer überlebt.
In den 50er Jahren lebten in der Stadt nur noch einige hundert Juden, von denen die meisten nach den Ereignissen vom März 1968 das Land verließen. Unter den einigen Dutzend Juden, die heute in Lublin leben, ist keiner Nachfahre der Vorkriegsgeneration.
Als Władysław Panas sich Anfang der 1990er Jahre mit der jüdischen Geschichte Lublins zu beschäftigen begann, konnte er auf kein Museum, kein Archiv, keine im Stadtraum markierten Gedächtnisorte zurückgreifen. Mit seinem Essay "Das Auge des Zaddik" unternimmt er die Anstrengung, Erinnerung buchstäblich aus der Leere zu generieren. Seine Hilfsmittel waren Lektüren, akribische Beobachtung und die poetische Imagination.
Sein Essay über das jüdische Lublin markiert zugleich den Beginn einer höchst verdienstvollen Initiative, die bis heute in Lublin tätig ist und mittlerweile höchste internationale Aufmerksamkeit erlangt hat: das Kulturzentrum "Brama Grodzka" - ein Ort, an dem sich Museum, Archiv, Theater, Musik, Pädagogik, Workshop und Performance miteinander verbinden, um das so mühsam wiedergewonnene Gedächtnis zu bewahren und seine Inhalte weiter zu entwickeln.
Dr. Lothar Quinkenstein, Schriftsteller und Übersetzer aus dem Polnischen (u.a. übersetzte er gemeinsam mit Lisa Palmes den Roman "Die Jakobsbücher" der Nobelpreisträgerin Olga Tokarczuk) wird an dem Abend in die jüdische Geschichte Lublins einführen und dem Publikum diesen so faszinierend tiefgründigen Essay nahe bringen.