80 Jahre nach dem Überfall auf Polen tut sich die deutsche Gesellschaft noch immer schwer mit der Aufarbeitung deutscher Verbrechen.
Am 1. September 1939 überfiel Deutschland das Nachbarland Polen. Von Beginn an war der Angriff begleitet von flächendeckenden Bombardements von Städten, der gezielten Vernichtung der polnischen Elite durch Verhaftungen, Deportationen und Erschießungen sowie von rassistischer Gewalt, die sich in besonderer Weise gegen die jüdischen Bürgerinnen und Bürger der Polnischen Republik richtete.
Die annektierte Region Großpolen wurde als „Warthegau“ ein Labor für die Schaffung von „deutschem Lebensraum“, der durch die gewaltsame Aussiedlung der gesamten slawischen und jüdischen Bevölkerung und die Ansiedlung von Volksdeutschen entstehen sollte. Die zuvor im Deutschen Reich begonnenen Krankenmorde wurden hier fortgesetzt. Die Experimente zur Massentötung von Kranken durch Gas dienten der Weiterentwicklung des deutschen Tötungsarsenals. Im Zuge der fortschreitenden Radikalisierung nach dem deutschen Angriff auf die Sowjetunion kam dieses bei der Errichtung von nationalsozialistischen Vernichtungslagern in Polen zum Einsatz. Von den insgesamt sechs Millionen Opfern des Holocaust waren etwa die Hälfte polnische Staatsbürger.
In der Hauptstadt Warschau sahen die deutschen Besatzer von Anfang an das Symbol des polnischen Widerstands, den es im Zuge des „Polenfeldzuges“ zu brechen galt. Deshalb trafen bereits im September 1939 Bomben zivile Ziele in der Innenstadt Warschaus. In zwei Aufständen setzten sich die Einwohner zur Wehr: Im April 1943 im Ghetto und im August 1944 in der gesamten Innenstadt. Roman Herzog verwechselte sie in seiner historischen Rede vor dem Denkmal an den Warschauer Aufstand am 1. August 1994, in der er als erster Bundespräsident in Polen um Vergebung für die von Deutschen begangenen Verbrechen bat. Und auch 25 Jahre später wissen nicht alle Schulabgänger/innen in Deutschland, welches Ausmaß die mit dem 1. September 1939 in Polen einsetzenden Verbrechen der deutschen Besatzer hatten.
Wofür steht der 1. September 1939?
Mit dem Überfall auf Polen begann nicht nur die Zerstörung ganzer polnischer Gemeinden. Es forcierte sich auch die weitreichende Selbstzerstörung der deutschen Gesellschaft. Bereits 1933 hatten in den Ostprovinzen des Deutschen Reichs besonders viele Menschen die NSDAP gewählt, doch ab dem 1. September 1939 richtete sich die symbolische Gewalt, die im Inneren des Reichs bereits den Alltag prägte, mit ganzer Wucht und in physischer Weise gegen ein gesamtes Nachbarland. Wie viele Nachfahren der deutschen Vertriebenen machen sich 2019 klar, dass der Verlust ihrer Heimat im Kern auf den Hitler-Stalin-Pakt zurückgeht? Eine Woche vor dem 1. September hatten die Sowjetunion und das Deutsche Reich vereinbart, Polen unter sich aufzuteilen. Die im geheimen Zusatzprotokoll verzeichnete Linie sollte die spätere Westverschiebung Polens vorzeichnen – Stalin hatte nicht vor, die unter seiner Führung eroberten ostpolnischen Gebiete, die heute in Belarus, der Ukraine und Litauen liegen, wieder aus dem sowjetischen Herrschaftsgebiet zu entlassen. Schon am 17. September 1939 besetzte die Rote Armee den Osten der Polnischen Republik und ließ der polnischen Führung keine Wahl als die Flucht nach London. Von dort aus verbot sie ihren Landsleuten unter Androhung der Todesstrafe, mit dem deutschen Besatzer zu kollaborieren und organisierte im gesamten Land eine Heimatarmee im Untergrund.
Als fünf Jahre und Millionen Tote später die Front wieder die Ostgrenze der Zweiten Polnischen Republik überschritt, hinterließen deutsche Einheiten auch in Polen verbrannte Erde. Die bei der sogenannten Bandenbekämpfung im Osten Polens erprobte Verbindung aus Massenerschießungen und Brandschatzung ganzer Dörfer erreichte im Spätsommer 1944 auch Warschau. Im Zuge des Kampfes gegen die Aufständischen ermordeten die deutschen Besatzer zehntausende Einwohner. Wem ist heute in Deutschland der Stadtteil Wola ein Begriff, wo Anfang August 1944 systematisch, Straßenzug um Straßenzug, Frauen, Kinder und Alte ermordet wurden? Wie viele Deutsche wissen, dass nach der Niederschlagung des Aufstands vor 75 Jahren in ganz Warschau gezielt Haus für Haus in Brand gesetzt wurde, um die Millionenstadt dem Erdboden gleich zu machen?
Deutsche Erinnerungslücken in einer Landschaft der Vernichtung
Es wäre wichtig, in der deutschen Gesellschaft 2019 jenseits von Fachliteratur, belletristischen Büchern und der allgemein zugänglichen Dokumentation in Wikipedia mehr Wissen über deutsche Verbrechen in Polen zu vermitteln. Ein Grund für die weitgehende Unkenntnis der konkreten historischen Ereignisse, die in Polen mit dem 1. September 1939 begannen, liegt in der geteilten deutschen Nachkriegsgeschichte. In der DDR begann zwar traditionell das Schuljahr am Weltfriedenstag – dem 1. September –, aber eine öffentliche Aufarbeitung der Beteiligung an deutschen Verbrechen in Polen blieb mit dem Verweis auf staatlichen Antifaschismus aus. In der Bundesrepublik kam es seit den späten 1960er Jahren zu einer Veränderung in der Erzählung und Selbstwahrnehmung der Gesellschaft. Als Ergebnis festigte sich in den 1980er Jahren eine öffentliche Gedenkkultur, deren Grundlage das Eingestehen der staatlichen und gesamtgesellschaftlichen Verantwortung für die zwischen 1939 und 1945 in weiten Teilen Europas begangenen Verbrechen ist. Das öffentliche Gedenken schloss aber – anders als von den Protagonisten der Generation 1968 oft behauptet – nur in Ausnahmefällen auch die Auseinandersetzung mit der konkreten, eigenen, familiären Verantwortung ein.
Nur in wenigen Familien legten die Väter Zeugnis von ihren Erfahrungen im östlichen Europa ab – die meisten schwiegen nach der Rückkehr aus der Kriegsgefangenschaft über das Ausmaß der Gewalt in Polen und der Sowjetunion. Wo könnte Erinnerungsarbeit im Jahr 2019 ansetzen? In vielen deutschen Familien lagern auf dem Dachboden oder im Keller noch heute Fotoalben, die zumindest Auskunft geben, an welchen Orten die Großväter im Einsatz waren. Wenn in den Familien kein Interesse an der eigenen Geschichte vorhanden ist, landen diese fotografischen Zeugnisse auf den Auktionsplattformen kommerzieller Anbieter, darunter auch das Foto, das diesen Beitrag begleitet. Auf dem Bild ist zu erkennen, dass die Zerstörung Warschaus bereits im September 1939 mit gezielten Luftangriffen auf das Stadtzentrum begonnen hatte.
Wer mehr über den Einsatzort der eigenen männlichen Vorfahren im Krieg erfahren will, kann eine Anfrage beim Bundesarchiv stellen. Dafür genügen der Name und das Geburtsdatum des Vorfahren. Für diejenigen, deren Großväter nicht aus dem Krieg zurückkehrten, stehen zur Schicksalsklärung die Datenbanken des Suchdienstes des Deutschen Roten Kreuzes sowie des Volksbunds Deutsche Kriegsgräberfürsorge zur Verfügung. Die Bedeutung des dort gespeicherten Wissens über einzelne Soldaten und ihren Einsatzort geht über genealogische Forschungen weit hinaus – es bietet die Chance, auch im Privaten zu erkennen, dass die Besatzung Polens von konkreten Männern vollzogen wurde, die dort im Einsatz waren. Der Nationalsozialismus war keine abstrakte Ideologie, sondern wurde von vielen Deutschen als Weltanschauung im Tornister mit in den Krieg getragen. Davon zeugen nicht zuletzt auch die Feldpostbriefe, die oft in Familienarchiven erhalten geblieben sind. In vielen von ihnen berichteten Soldaten und Offiziere der Wehrmacht im September 1939 von der großen Euphorie, den Feind an der Weichsel schon bald zu besiegen.
Denk mal an Polen
2019 wird öffentlich diskutiert, wie die deutsche Gesellschaft an die polnischen Opfer des Zweiten Weltkriegs erinnern soll. Das ist zu begrüßen, denn die Debatte über die adäquate Form des Gedenkens führt, hoffentlich, zu breiterer Kenntnis über das Ausmaß der deutschen Verbrechen in Polen. Aktuell stehen zwei Vorschläge im Raum: ein Denkmal am Berliner Anhalter Bahnhof für alle polnischen Opfer sowie eine Dokumentationsstätte des Vernichtungskriegs im Osten Europas. Die Initiatoren des Denkmals unterstreichen, dass ein zentraler Ort in Berlin ein wichtiges Symbol in Richtung Polen wäre. Und die Befürworter eines Dokumentationszentrums schlagen vor, den größeren Zusammenhang des Generalplans Ost zur Neuordnung des östlichen Europas und das Ineinandergreifen der Besatzung Polens und der weiteren Radikalisierung nach dem Angriff auf die Sowjetunion in einem Zusammenhang zu erzählen. Vor allem geht die Debatte aber um die Frage nach dem Umgang mit der Nation: Soll Deutschland noch 80 Jahre nach Kriegsbeginn an jede Nation gesondert erinnern, die von nationalsozialistischer Gewalt betroffen war? Die Kritiker befürchten eine Vielzahl einzelner Denkmalsinitiativen und einen Wettstreit um historische Anerkennung als Teil konkurrierender Identitätspolitiken. Und doch zeigt allein die Debatte, dass es 2019 noch keinen breiten gesellschaftlichen Konsens zu Bedeutung und Charakter des 1. September 1939 gibt: dass Polen an diesem Tag als Nationalstaat angegriffen wurde, der von der Landkarte Europas erneut verschwinden sollte. Wäre das bereits Teil bundesdeutscher Erinnerungskultur, würde kaum jemand öffentlich die Notwendigkeit eines Denkmals in Frage stellen, um an den Versuch zu erinnern, mitten in Europa einen Staat zu zerstören und ein ganzes Land in eine Zone der Vernichtung zu verwandeln. Dafür steht der 1. September 1939 weit über den Angriff auf Polen hinaus. Für das Verständnis dieses Zusammenhangs indes wäre auch ein Dokumentationszentrum dringend notwendig.
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