Wider den Extremismus der Normalität – Für eine transformative Mitte

Kommentar

Angela Merkel und Andrea Nahles: Die beiden Parteichefinnen der großen deutschen Volksparteien stehen in der deutschen Politik für Maß und Mitte. Die Extreme scheinen ihnen fremd. Und doch haben sie in den vergangenen Wochen eine Entscheidung getroffen, die an Extremismus kaum zu übertreffen ist. In der von Seehofers Eskapaden geschüttelten Republik hat dies kaum jemand bemerkt.

Lesedauer: 7 Minuten
Rotes und Grünes Wegschild vor Klinkerfassade mit Geranien am Fenster

EU Kommissar Miguel Arias Cañete hat Ende September seinen Versuch aufgegeben, die EU Regierungschefs bei ihrem kommenden Gipfel dazu zu bewegen, das europäische Klimaziel zu verschärfen: im Jahr 2030 von 40% auf 45% unter das Niveau von 1990. Angesichts der dramatischen Entwicklungen, die uns der diesjährige Hitze- und Dürresommer vor Augen geführt hat, ist dieser eher symbolische Trippelschritt viel zu zaghaft. Aber selbst dieser schien dem EU Klimakommissar nicht durchsetzbar angesichts der Opposition aus Europas größtem Mitgliedsstaat: Deutschland.

Merkel und Nahles haben mit ihrem Standpunkt nicht hinter dem Berg gehalten. Angela Merkel verkündete ihre Opposition gegen ein ambitionierteres Klimaziel im ARD-Sommerinterview. Und Nahles? Sie lässt ihre Parteigenossin, Umweltministerin Svenja Schulze, im Regen stehen. Statt Schulze den Rücken zu stärken, gefällt Nahles sich darin, die SPD als Schutzmacht der Kohlekumpel zu positionieren und Klimaschutz gegen Arbeitsplätze auszuspielen.

Warum ist die Entscheidung der EU so bedeutsam? Schließlich stößt die EU nur 9% der globalen Emissionen an Treibhausgasen aus. Um dies zu verstehen muss man das Pariser Klimaabkommen betrachten. Es besteht aus zwei Schlüsselelementen: Erstens, einem globalen Ziel zur Begrenzung des weltweiten Temperaturanstiegs auf deutlich unter 2°C, ja möglichst nur 1,5°C über dem vorindustriellen Niveau. Und zweitens den Zusagen der einzelnen Staaten, ihre Emissionen zu mindern. Doch wenn man diese Zusagen aufaddiert, dann bewegen wir uns global auf einem Pfad, der eher an die 3°C Erwärmung erwarten lässt.

Emissionslücken schließen

Zwischen dem was die Staaten der Welt in Paris versprochen haben, und dem was für das Erreichen des globalen Temperaturziels notwendig ist, klafft eine gewaltige Lücke. Weil man diese Emissionslücke in Paris nicht schließen konnte, einigte man sich darauf, vor 2020 wieder zusammenzukommen und gemeinsam die Minderungszusagen anzuheben. An diesem Punkt sind wir nun, dem Beginn dieser so dringend notwendigen Runde zur Schließung der Emissionslücke.

Doch die EU, die im weltweiten Klimaschutz historisch immer eine wichtige, ja manchmal eine führende Rolle gespielt hat, setzt nun ein fatales Signal: Anstatt die dringend gebotenen Anstrengungen zu unternehmen, zeigt sich der alte Kontinent erschlafft. Damit wird der beginnenden Runde zur Anschärfung der Emissionsziele jeglicher Schwung entzogen. Und ausgerechnet Deutschland, geführt von einer großen Koalition, steht hinter dieser Entscheidung. Damit gibt Deutschland zwar nicht dem Buchstaben nach, wohl aber in der Praxis, das Pariser Klimaabkommen preis. Das Abkommen, das trotz aller Unvollkommenheit unsere einzige Chance ist, die Erde einigermaßen bewohnbar zu halten.

Es ist eine wahrhaft extreme Entscheidung, die Nahles und Merkel hier zu verantworten haben. Ihr ‚Extremismus der Normalität‘ (Bernd Ulrich) zeigt sich an seinen Folgen: Wenn wichtige Kipp-Punkte im weltweiten Klimasystem überschritten werden. Wenn die Eisschilde Grönlands oder der Westantarktis unwiderruflich destabilisiert werden, und über Jahrzehnte und Jahrhunderte der Meeresspiegel um mehrere Meter ansteigt, Küstenstädte weltweit und auch in Deutschland versenkend. Wenn der Permafrost auftaut und zu einer Quelle von Methan wird, das den Klimawandel weiter beschleunigt. Wenn weltweite Dürren die Ernährungsgrundlage der Menschheit gefährden. Wenn wir in eine Heisszeit hineinschlittern könnten, die das Überleben eines großen Teils der Menschheit in Frage stellt.

Maßlose Normalität

“Wenn ich in die Zukunft blicke, habe ich Angst. Nicht Angst, dass sich etwas ändert. Sondern Angst, dass alles bleibt, wie es ist”. Die Äußerung der Journalistin Laura Meschede, auf eine ungesteuerte Automatisierung gemünzt, lässt sich mit vollem Recht auch auf die Klimapolitik anwenden. Denn wenn alles so bleibt wie es ist – wenn Politik, Wirtschaft und Bürger sich klimapolitisch mit kleinen Schritten bewegen, dann ist das Ergebnis so maßlos, wie es nur Extremisten herbeiwünschen könnten. Merkels und Nahles‘ „Maß und Mitte“ hat apokalyptische Folgen.

‚Maß und Mitte‘ müssen daher neu definiert werden. Es gibt eine transformative Mitte, die die notwendigen raschen Veränderungen aus Bürgersinn und Verantwortung für das Ganze vorantreibt. Diese „Mitte der Gesellschaft“, so stellte ZEIT Online fest, war vor wenigen Tagen mit 50.000 Demonstranten im Hambacher Forst zu sehen. Diese Mitte tritt der polkappenabschmelzenden Maßlosigkeit von BDI und IGBCE, von Bauernverband und Autoindustrie, entgegen.

Transformative Politik angesichts des Extremismus der Normalität

Eine Politik der transformativen Mitte fordert und beschreitet entschlossen Transformationspfade für Energiewirtschaft und Mobilität, für Landwirtschaft und Industrie, für Städte und ländliche Regionen. Für sie ist radikaler Realismus das Gebot der Stunde.

Dabei kann es angesichts der Größe der Bedrohung gar nicht schnell genug gehen. Die 1,5°-Grad-Szenarien, die in diesen Tagen vorgestellt wurden, zeigen eine atemberaubende Geschwindigkeit des Wandels. Eigentlich müssten alle Kohlekraftwerke sofort abgestellt, der Ausbau erneuerbarer Energien sofort vervielfacht werden. Flüge müssten stark verteuert, und Fleischkonsum eingeschränkt werden. Und so weiter - die Liste ließe sich lange fortsetzen.

Und dennoch kann es auch hier ein Zuviel geben. Es gibt eine optimale Radikalität, jenseits deren die Zustimmung der Bürger kippt und Politik zur Brechstange greifen müsste. Doch eine Klimapolitik mit der Brechstange wird scheitern – und eine gescheiterte Politik nützt am Ende auch dem Klimaschutz nichts. „Es gibt nichts Gutes. Außer man tut es“. Erich Kästners Satz gilt gerade auch im Klimaschutz. Erfolg ist Pflicht, Scheitern keine Option. Eine Politik der transformativen Mitte muss daher das Maximum an Transformation anstreben, das politisch durchhaltbar ist. Von diesem Maximum sind wir momentan Lichtjahre entfernt.

Konfliktfähigkeit und Entschlossenheit

Keine Frage: Transformative Politik darf Konflikte mit mächtigen Interessen nicht scheuen. Ob RWE oder Volkswagen, ob Exxon oder Fleischindustrie, ob Deutsche Bank oder Airbus – zu viele Kräfte verdienen gut daran, das überholte, fossil getriebene Wachstumsmodell noch ein Stückchen weiter zu treiben, obwohl dieses Wachstum nicht mehr Wohlstand, sondern immer mehr Risiken und Krisen generiert.

Doch nicht nur einflussreiche wirtschaftliche Kräfte, auch Menschen, die ihren Lebensunterhalt bedroht sehen, verteidigen den jetzigen, zerstörerischen Status Quo. Neben Konfliktfähigkeit ist damit auch dialogische Politik gefragt, die Einwände und Hindernisse ernst nimmt und gemeinsam mit den Betroffenen praktikable Transformationspfade entwickelt. Denn eine Politik der transformativen Mitte muss Neuland beschreiten. Nicht überall ist der Weg schon so relativ klar wie bei der Energiewende. Transformative Politik muss mit Pilotvorhaben experimentieren, begleitend die Ergebnisse rasch auswerten, und wo Klarheit herrscht entschlossen die Umsetzung vorantreiben.

Transformative Politik kann sich nicht damit begnügen, als Juniorpartner Politik als Kunst des Kompromisses, des graduell Möglichen im Rahmen der herrschenden Mehrheitsverhältnisse zu betreiben. Damit würde sie zum Handlanger einer extremistischen Normalität. Sondern sie muss den Spielraum des Möglichen in der Gesellschaft ständig zu erweitern versuchen. Dazu muss sie das Bündnis mit der Gesellschaft, den Kirchen, veränderungsbereiten Unternehmern, Landwirten und Gewerkschaften suchen. Und zugleich im Kontakt mit den sozialen Bewegungen bleiben, die den Wandel außerhalb von Parlamenten und Parteien vorantreiben, sei es im Hambacher Forst oder bei den Demos unter dem Motto „Wir haben es satt“ für eine bessere Landwirtschaft.

Erhaltend verändern

Angesichts der Bedrohung der liberalen Demokratie, der offenen Gesellschaft durch eine autoritäre Welle liegt für manche Grüne der Schulterschluss mit den Kräften der demokratischen Mitte nahe. Winfried Kretschmanns Ausspruch, er bete für Merkel, steht für diesen Ansatz. Doch darf dies nicht die Fortsetzung einer Politik der kleinen Schritte bedeuten. Der Abschied von einer extremistischen Normalität und der Aufbruch in die transformative Mitte ist der Preis, den grüne Politik für eine Regierungsbeteiligung einfordern muss.

André Wilkens hat für die offene Gesellschaft formuliert: „Es braucht eine Dialektik des Erhaltens und des radikalen Veränderns – Erhalten des Wertegerüsts der offenen Gesellschaft und die Entwicklung radikal neuer Entwürfe des gesellschaftlichen Zusammenlebens, die auf die wirtschaftlichen und technologischen Fragen des 21. Jahrhunderts konkrete Antworten geben.“ Dies gilt mehr denn je auch für die ökologischen Fragen, die eine Politik der transformativen Mitte anzugehen hat.

Zuerst erschienen auf tagesspiegel.de