Diese Einwände begegnen Feminist*innen in der ganzen Welt immer wieder. So lassen sie sich entkräften. Von Dr. Ines Kappert und Caroline Assad.
1. „Feminismus gehört nicht zu unserer Kultur“
Hier wird behauptet, dass Kultur etwas Statisches ist, das sich nicht verändert. Doch Gesellschaften und ihre Kulturen wandeln sich nicht nur und beeinflussen einander, sie sind auch stets heterogen und in sich widersprüchlich. Die Behauptung von der einen, in sich geschlossenen Kultur, auch Kulturessentialismus genannt, lässt sich empirisch nicht belegen. Der Grad von Heterogenität variiert, sowohl innerhalb einer Gesellschaft als auch zwischen Ländern insgesamt.
Dass sich die Arbeit und das geistige Fundament von Feminist*innen weltweit gegenseitig bereichern kann, sollte in Zeiten der Globalisierung selbstverständlich sein, schließlich reisen nicht nur Produkte schneller um den Globus als je zuvor, sondern auch Ideen. Dennoch wird der Kulturessentialismus gern von Demagog*innen und Autokrat*innen1 verwendet, um das Eintreten für Queerness, sexuelle Selbstbestimmung und Geschlechtergerechtigkeit herabzuwürdigen, zu kriminalisieren und darüber Menschen nationalistisch oder auch völkisch einzuschwören. Er ist ein zentraler Pfeiler von Antifeminismus.
2. „Feminismus ist eine Erfindung des Westens“
Feminismus ist das Aufbegehren gegen eine patriarchale Ordnung, die den heterosexuellen Mann als Norm und Autorität einsetzt und ihm Frauen und alle anderen Geschlechter unterordnet – mithilfe von körperlicher und struktureller Gewalt. Diese wird in der Regel mit Verweis auf die „natürliche Ordnung der Geschlechter“, „traditionelle Familie“ oder “heilige Ehe”gerechtfertigt. Feminismus wehrt sich gegen diese Gewalt, und das in den unterschiedlichsten Formen. Urvashi Butalia schreibt:
„Es kann niemals ein Copyright auf Ideen oder auf den Kampf gegen Diskriminierung und Ungerechtigkeit geben. (…) Wichtig ist allerdings, dass wir sehen, wie sich diese Bewegung (…) mit der Ausbreitung einer Vielzahl von Feminismen in aller Welt verändert, angepasst und weiterentwickelt hat. Der westliche Feminismus war lange Zeit eine Form des Feminismus, die überwiegend der Mittelschicht angehörende weiße Feminist*innen propagierten. Selbst die Suffragetten als frühe Feminist*innen, die für das Wahlrecht in Großbritannien kämpften (…) unterstützten nach eigenem Bekunden die ‘Zivilisierungsmission’ des Imperialismus.“
Umso wichtiger ist es daher, feministischen Expert*innen überall in der Welt zuzuhören und von ihnen zu lernen, wie sie sich gegen Sexismus und Antifeminismus wehren. Dekolonialismus und Feminismus gehen dabei oft Hand in Hand .
3. „Bei der Entscheidung für oder gegen eine Schwangerschaft brauchen Frauen Hilfe“
Die Kontrolle über den gebärfähigen Körper ist das Fundament patriarchaler Herrschaft. Serawit Debele stellt fest:
„Der weibliche Körper ist sogar noch mehr zum Kampfschauplatz geworden, nachdem Frauen vermehrt ‘Nein’ zur patriarchalen Kontrolle gesagt haben. Vorher war es normal, einfach nur im Dienste des Patriarchats, des Staats, der Männer zu stehen. Es gab kein Nein. Die Debatte darüber, was das Frausein und den weiblichen Körper ausmacht, setzte erst dann massiv ein, als Frauen die ihnen zugewiesene Rolle hinterfragten. Und damit auch die Erwartung, ihren Körper bereitwillig als Gefäß für die Produktion von Arbeitskräften im Dienste des Kapitalismus oder als Mütter, als Töchter, für den Erhalt der Nation zur Verfügung zu stellen.”
Erst durch die Arbeit unzähliger Aktivist*innen ist es zumindest in einigen Ländern gelungen, das Reproduktionsrecht so auszulegen, dass es Frauen mit Einschränkungen möglich ist, sich für oder gegen ein Kind zu entscheiden. Vorreiterin ist Kanada, das den Abbruch seit 1988 vollständig entkriminalisiert hat und ihn wie jeden anderen medizinischen Eingriff behandelt. Kanada ist in Bezug auf Abtreibung das Land mit der geringsten Müttersterblichkeit der Welt. Auch sind Abtreibungszahlen nicht höher als in Ländern mit restriktiven Regelungen, im Gegenteil. Im Vergleich zu den USA gibt es weniger Abbrüche. Mit Verweis auf Kanada lässt sich Behauptung widerlegen, dass allererst die Kriminalisierung von Abbrüchen ihre Zahl eindämmen kann.
Die Gründe für einen Abbruch sind vielfältig: Der Wunsch, ein Leben ohne biologische Kinder zu führen, kann eine Motivation sein. Häufiger hängt ein Abbruch mit der sozialen Situation zusammen: falsches Alter (zu jung oder zu alt), schlechte finanzielle Situation, familiärer Druck, der Partner will kein Kind, die Arbeitgeberin diskriminiert Frauen mit Kindern, die Einschätzung, dass ein weiteres Kind zu viel ist, oder die gesellschaftlichen Lebensbedingungen für behinderte Menschen zu schlecht sind, um individuell ausgeglichen werden zu können. Insofern ist ein zentraler Hebel für die Entscheidung, eine Schwangerschaft fortzuführen, weniger Druck auf die Gebärenden und mehr soziale Gerechtigkeit. Das von Schwarzen Feminist*innen entwickelte Konzept der Reproduktiven Gerechtigkeit bietet viele Ansatzpunkte.
Interessant ist auch die Verbindung zwischen dem Kampf für die Legalisierung von Schwangerschaftsabbrüchen und Umweltprotesten in den Blick zu nehmen. Die Philosophin Eva von Redecker argumentiert in ihrem Buch Revolution für das Leben, dass das verbindende Element sei, sich an der Lebenswirklichkeiten zu orientieren, anstatt Menschen Ideologien zu unterwerfen. Auch Mayra Rodriguez Castro ordnet die ausbeuterische Extraktion von Kohle in Kolumbien durch europäische Großkonzerne als feministisches Thema ein, nämlich als Verletzung des Reproduktionsrechts der Erde, unter der Frauen extrem leiden. Sie ermutigt, feministische Kämpfe für reproduktive Gerechtigkeit groß zu denken.
4. „Feminismus bedeutet immer Pazifismus“
Feministisch orientierte Außenpolitik erkennt an: „Solange Frauen nicht sicher sind, ist niemand sicher“ (Annalena Baerbock, deutsche Außenministerin). Sie zielt auf Frieden und Demokratie, für die das Streben nach sozialer Gerechtigkeit Voraussetzung ist. Studien zeigen: Je größer die Kluft zwischen den Geschlechtern in einem Land ist, desto höher ist die Wahrscheinlichkeit für gewaltsame Konflikte im Inneren und Aggressionen gegen andere Länder. Das heutige Russland ist hierfür ein eindrückliches Beispiel, doch nur eines unter vielen. Damit ist Feminismus grundsätzlich der Demilitarisierung verpflichtet. Gleichzeitig muss bei Angriffskriegen das Recht auf militärische Selbstverteidigung geachtet werden. Insofern greift es zu kurz, Feminismus dogmatisch mit Pazifismus gleichzusetzen. Es kann Situationen geben, in denen Waffenlieferungen darüber entscheiden, ob ein Land sich weiter demokratisieren kann oder nicht. In der Ukraine ist das der Fall. Auch Feminist*innen haben dann nicht mehr die Wahl, sich gegen eine Bewaffnung zu entscheiden, obgleich klar ist, dass Militarisierung und sexualisierte sowie häusliche Gewalt Hand in Hand gehen.
5. „Frauen sind die besseren Menschen“
Menschen haben immer verschiedene Rollen und Identitäten gleichzeitig: Sie sind Mutter und Tochter, Bruder und Landbesitzer, Schwarz, reich und schwul, Geschäftsfrau und AfD-Mitglied etc.. Rechte und faschistische Bewegungen haben die Mär von der „besseren Hälfte” längst angeeignet und stellen Frontfrauen auf, um sich ein friedlicheres Antlitz zu geben. Marine Le Pen oder Giorgia Meloni sind dafür Beispiele unter vielen. Es ist verkürzt, Gesellschaften allein auf den Gegensatz von “Männer gegen Frauen” zu reduzieren, wie es im patriarchalen Denken grundlegend ist, doch leider auch im sogenannten Differenz-Feminismus gespiegelt wird. Macht und Ohnmacht aber verteilen sich nach einem komplizierteren Mechanismus. In akademischen Kreisen spricht man daher von „Konstruktionen“ von Weiblichkeit und Männlichkeit bzw. unterscheidet zwischen dem sexuellen und sozialen Geschlecht (gender). Gleichwohl zeigen die Datenerhebungen: Sexualisierte Gewalt geht fast immer von Männern aus und richtet sich in der absoluten Mehrheit gegen Frauen. Niemand ist so gefährdet wie trans Personen, und Care-Arbeit ist unterbezahlt und weiblich, überall in der Welt.
Umso wichtiger ist es, verschiedene Diskriminierungen in ihrem Zusammenwirken in den Blick zunehmen: Eine Schwarze Frau in Deutschland ist anderen Problemen ausgesetzt als eine Schwarze Frau in El Salvador. Ebenso kann eine Person gleichzeitig privilegiert sein und diskriminiert werden: Vergewaltigungen finden in allen Schichten statt. Außerdem schützt die Erfahrung von Gewalt nicht davor, andere zu diskriminieren. Das von Kimberlé Crenshaw geprägte Konzept der Intersektionalität trägt dieser Wirklichkeit Rechnung. Es handelt sich also nicht, wie häufig behauptet, um ein abgehobenes Konzept aus der Uni-Welt, sondern um die Bemühung, eine von Widersprüchen geprägte Wirklichkeit zu beschreiben und lebensnahe feministische Strategien aufzuzeigen.
6. „Der Westen führt in Sachen Frauen“
Die Kritik am Weißen Feminismus ist zentral für einen transnationalen Dialog. Niemand ist tatsächlich weiß; weiß gelesene Leute haben häufig einen eher beigen oder rötlichen Hautton. Es handelt sich um eine politische Kategorie, die im Kontext der Kolonialisierung geprägt wurde, um die unterworfenen Menschen als weniger zivilisiert und als weniger human zu kennzeichnen. Auf diese Weise wurden Ausbeutung, Massenmorde, Versklavung, Krieg und Genozid möglich gemacht. Rafia Zakarias Buch Against White Feminism. Wie weißer Feminismus Gleichberechtigung verhindert, zeigt, wie sehr westlicher Feminismus von den Prioritäten weißer Frauen dominiert wird. „Eines Abends nach dem Essen, als ich Mitte der 90er-Jahre in Karatschi auf meiner Bettkante saß, willigte ich in eine arrangierte Ehe ein“, schreibt sie. Sie wollte studieren. „Mein Leben war bis dahin in vielerlei Hinsicht eingeschränkt gewesen und reichte kaum über die Mauern hinaus, die unser Haus umgaben. Ich hatte noch nie Freiheit erlebt, und so gab ich sie gerne auf.“
Erst eine dekoloniale und intersektionale Perspektive erlaubt, feministische Arbeit überall in der Welt zu erkennen. Dann erledigt sich der Mythos einer allgemeinen westlichen Überlegenheit von selbst und Kooperationen auf Augenhöhe werden möglich.
7. „Frauen im Iran oder in Afghanistan tun uns leid, wir können aber nichts für sie tun“
Regime können sich ohne den Rückhalt bei Teilen der internationalen Gemeinschaft nicht halten.. Insofern muss jedes Land überprüfen, inwiefern seine (Außen)Politik Geschlechterungerechtigkeit unterstützt oder erschwert. Die Ausweitung von Schutzprogrammen, die Erleichterung von Visa in sichere Länder und die kulturelle und finanzielle Unterstützung von Exil-Communities in angrenzenden Ländern, leisten einen direkten Beitrag, um Frauen und queere Menschen zu unterstützen. Reiche Länder haben hier Spielraum nach oben.
Gleichzeitig können Feminist*innen im Ausland auch eine problematische Rolle spielen. Immer wieder passiert es, dass sie Akteur*innen in repressiven Ländern den Eindruck vermitteln, diese könnten sich der internationalen Unterstützung sicher sein, doch im Ernstfall passiert wenig oder gar nichts. Afghanistan ist hierfür ein Beispiel. Batool Haidari zieht eine bittere Bilanz:
“Die Weltgemeinschaft sieht den Ereignissen in Afghanistan zu, ohne eine Vision für die Zukunft des Landes zu haben. Warum werden die Probleme in Afghanistan so zögerlich angegangen? Die Antwort scheint leider simpel zu sein: Die Taliban stellen heute für die Weltgemeinschaft keine Gefahr mehr dar. Ihre erneute Präsenz in Afghanistan hat weder den USA noch dem Rest der westlichen Welt unmittelbar geschadet. Warum also Druck auf sie ausüben?”
Trotzdem sind feministische Kämpfe immer auch auf die Unterstützung von außen angewiesen. Umso wichtiger ist es, von intersektionalen und dekolonialen Perspektiven zu lernen, die feministischen Diasporen ernst zu nehmen und „Schönwetter-Feminismus“ scharf zu kritisieren.
8. „In Deutschland sind Frauen gleichberechtigt“
Richtig ist, dass Deutschland deutliche strukturelle Defizite in Bezug auf Gleichberechtigung hat. Im europäischen Vergleich liegt es auf Platz 11. Schwangerschaftsabbrüche werden im Strafgesetzbuch geregelt und es gilt die Austragungspflicht für Schwangere, auch wenn Ausnahmen erlaubt sind. In Deutschland wird jeden dritten Tag eine Frau von ihrem (Ex)Partner ermordet. Trotzdem ist das Konzept der Femizide, also der Morde an Frauen, weil sie Frauen sind, bis heute nicht offiziell anerkannt. Entsprechend gibt es auch keine ausreichenden Daten, die Femizide jenseits von sogenannter Partnerschaftsgewalt beleuchten. Obwohl Deutschland ein reiches Land ist, leistet es sich kaum Schutzeinrichtungen für Frauen, die von Gewalt betroffen sind. Die mangelnde Umsetzung der Istanbul-Konvention wurde vom Europarat kritisiert. Häusliche Gewalt explodierte während der Corona-Pandemie und nimmt seitdem weiter zu. Die Frage, warum Männer gewalttätig werden, wird zu selten und vor allem nicht systematisch gestellt. Entsprechend gibt es zu wenige Hilfsangebote.
Auch die Strafverfolgung von geschlechtsspezifischer Gewalt ist weltweit und auch in Deutschland lückenhaft. Eine der bekanntesten Juristinnen Deutschlands, Christina Clemm, kritisiert die Praxis in deutschen Gerichtssälen. Immer wieder argumentieren Richter*innen, dass Frauen, die wegen Vergewaltigung vors Gericht gehen, nicht glaubwürdig seien, da in Deutschland Gleichberechtigung erreicht sei.
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1 Ein gutes Beispiel ist Mahmud Ahmadinejad (ehemaliger iranischer Präsident), der gern behauptete, Homosexuelle gebe es im Iran nicht.
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Dieser Artikel ist Bestandteil des Dossiers Feminist Voices Connected.
Dieser Artikel erschien zuerst hier: www.gwi-boell.de