Anhand von Fotografien, die Paul Schebesta, österreichisch-tschechischer Missionar, Schriftsteller und Ethnograf, im ehemaligen Belgisch-Kongo (heute Demokratische Republik Kongo) aufgenommen hat, entstand Unearthing. In Conversation (2017). In der Performance der Künstlerin und Kulturtheoretikerin Belinda Kazeem-Kamiński geht es um die gewaltvolle Geschichte von Archivmaterial und das Trauma der Kolonisierung. Im Dialog mit den Abgebildeten verhandelt die Künstlerin Strategien der Repräsentation, die Reproduktion spezifischer Sehweisen und das Trauma des Othering im Hier und Jetzt.
Das hier ist in Erinnerung an die, die kommen.
Das hier ist in Erwartung derer, die sind.
Das hier ist ein Gespräch mit all jenen, die waren.
Wir sind.
Zum ersten Mal begegne ich euch in Frankfurt. 2014.
Ich betrachte altes ethnografisches Material, Fotografien, die von einem Ethnologen und seinen Helfershelfern gemacht wurden.
Da ist eine Verbindung, etwas, das in mir anklingt: die Unmittelbarkeit eines kolonialen Flashbacks, eine unheimliche, verweilende Vertrautheit.
Mein Blick trifft euren. Ich wünsche mir, dass ihr euch öffnen und mir erzählen würdet, was ihr dachtet, während ihr da standet. Ich wünsche mir, dass die Gedanken eurer Vergangenheit die Materialität der Repräsentation durchdringen, dass sie in meine Gegenwart hineinkriechen und übertragen werden, immer dann, wenn unsere Blicke aufeinandertreffen: Ich möchte wissen, was ihr denkt.
Wie kann ich mit euch sprechen, mit euch, den Menschen auf den Fotografien? Wie können wir kommunizieren? Während ich versuche, meine Fragen an euch zu formulieren, fühlt es sich an, als ob die anderen – Ethnograf*innen, Missionar*innen, Fotograf*innen und Autor*innen – zwischen uns stehen. Ihre Worte, ihre Fotografien, ihr Dasein.
Es gibt ein Sprichwort, welches in verschiedenen afrikanischen Ländern gebräuchlich ist. Auf die Schnelle übersetzt lautet es: »Bis die Löw*innen nicht ihre eigenen Erzähler*innen haben, werden die Jäger*innen immer den besten Part der Geschichte innehaben.« Also sagt mir, wie komme ich ran an die Geschichte der Löw*innen? Und was, wenn ich mich widersetze, euch zu Löw*innen zu machen, und vielmehr die Momente hervorholen möchte, in denen ihr Jäger*innen seid?
Einige Menschen lesen meine ersten Versuche als Pop-Art. Andere wiederum sagen, dass sie die Collagen an Baldessari erinnern … Als wäre das der Grund dafür, dass ich rote, blaue und gelbe Rechtecke verwende … Rot, blau und gelb – die Farben der Flagge der Demokratischen Republik Kongo. Was bedeutet es, euch mit den Farben dieser Flagge zu verdecken, den Farben einer Nation, die euch diskriminiert und eure Zugehörigkeit anzweifelt? Und außerdem verabscheue ich Flaggen …
Doch es geht nicht um die Farben, die ich verwendet habe, ich zweifle an der von mir gewählten Strategie: Neben dem Ziel, meine Aufmerksamkeit auf den Ethnografen zu richten, wollte ich euch beschützen, eure Abbildungen vor Blicken bewahren, die sich seit der ersten kolonialen Begegnung erhalten haben. Blicke, die noch immer dazu einladen und ermöglichen, koloniale Akteur*innen zu werden. Doch indem ich das getan habe, habe ich euch verdeckt, es unmöglich gemacht, dass ihr die Betrachter*innen anseht, ihren Blick zurückwerft.
Zurück zu den Fotografien, ich konzentriere mich auf den Ethnografen in eurer Mitte. »Wer ist dieser Typ?«, denke ich mir. Die Lippen fest aufeinandergepresst, die Augen verdeckt vom Schatten seines Hutes, genauer gesagt vom Schatten seiner beiden Hüte.
Ich brauche eine Weile, um zu verstehen, dass er etwas signalisiert. Wie ich noch herausfinden werde, wiederholt sich Schebestas Pose in verschiedenen Körpern, Zeiten und Kontexten. Als er sich dazu entscheidet, diesen Moment in Raum und Zeit einzufrieren, will er, dass die zukünftigen Betrachter*innen, die von ihm imaginierte Zuseher*innenschaft, die Nachricht, die er überträgt, unmittelbar verstehen.
Während ich die Bilder betrachte, wird das Bedürfnis, mich zu widersetzen, stärker und stärker.
Wie sich durch Hinschauen widersetzen? Wie einen widerständigen Blick entwickeln?
Es ist unglaublich. Wie hat er es geschafft, das belgische Kolonialsystem nicht zu erwähnen? Da sind keine Spuren in seinen Texten, zumindest nicht in denen, die ich bisher gelesen habe. Es scheint, als ob er irgendwo total außerhalb von Zeit und Kontext gewesen wäre, sich bewegend in einem zeitlich falsch eingeordneten Wald, der nicht Teil der kolonialen Welt war. Gäbe es nicht das Foto des belgischen Kolonialbeamten, würde nichts auf ein koloniales System hindeuten. Schebesta bewegte sich in seiner eigenen Vorstellung des Kongos, eines Ortes, der damals Kongo-Freistaat hieß …
Mein Ziel ist, mich auf Paul Schebesta und seine Helfershelfer zu konzentrieren, doch der Effekt ist, dass ich an eurer Auslöschung teilnehme; ich schneide euch sprichwörtlich aus dem Rahmen heraus.
Zuerst lasse ich die herausgeschnittenen Flächen leer.
Schmerzhaft spüre ich eure Absenz. Dann lege ich einen Spiegel darunter. Ich will, dass sich die Betrachter*innen mit ihrer eigenen Präsenz auseinandersetzen, mit ihren Vorstellungen, ihren Gedanken, ihrem Wissen.
Der Kongo und seine Bevölkerung fungierten als Projektionsfläche für europäische koloniale Vorstellungen. Um den Kongo zu erobern, mussten bestimmte Maßnahmen getroffen werden. Eine soziale Identität des Kongos musste konstruiert werden. Eine räumliche Identität musste erschaffen werden. Dies ermöglichte das Schreiben eines kolonialen Skripts, welches bestimmte Praxen annehmbar machte. Doch indem ich diese Repräsentationsstrategien anwende, setze ich euch mit dem Land gleich, einmal mehr.
Ich kann die Ausschnitte – eure Abbildungen – nicht wegwerfen. Und während ich sie ansehe, begreife ich, dass es bei all meinen Bemühungen nicht darum geht, Schebesta in den Fokus zu rücken. Ich schneide euch aus diesen Bildern heraus, weil ich eure Abbildungen nicht so stehen lassen kann: in einer Reihe aufgefädelt, ganz so, wie es euch angeordnet wurde; umarmt vom Ethnologen; neben einem toten Gorilla platziert, weil Schebesta der Gelegenheit nicht widerstehen konnte, die Analogie zwischen Affen und Schwarzen Menschen abzubilden, welche koloniale Fantasien befeuerte und noch immer befeuert.
Ich hebe eure Abbildungen auf, halte sie beisammen, warte auf den Tag, an dem ich imstande sein werde, einen anderen Kontext für euch zu schaffen, einen Platz, der weniger gewaltsam sein könnte, eine Umgebung, die ein Zuhause sein könnte.
Ihr habt eine Piki-Piki-Pfeife gegen Schebesta verwendet. Er erzählt, dass er eine gefunden hat, als er in eine der Behausungen gegangen ist, um Dinge zu sammeln, Objekte, die später in westlichen Museen und Sammlungen landen werden. Gefüllt mit den Habseligkeiten eines Feindes schützt die Piki-Piki-Pfeife vor möglicher Gewalt. Sie entmachtet den Feind. Doch da er seine Anwesenheit für selbstverständlich hält, denkt Schebesta nicht einmal darüber nach, dass ihr die Notwendigkeit saht, euch vor ihm zu schützen.
Ich konzentriere mich auf das Herumgeisternde, auf das, was mich immer wieder zu diesen Abbildungen zurückkehren lässt. Die Unmittelbarkeit des kolonialen Flashbacks, die Reinszenierungen von Prozessen des Zu-anderen-gemacht-Werdens.
Ich brauche eure Anwesenheit. Ihr begleitet mich, während ich versuche, widerständige Möglichkeiten des Blickens zu finden. Ich rufe euch an. Während ich recherchiere, werde ich Teil eurer Armee der eindringlichen Echos. Eindringlich.
Stills aus Unearthing. In Conversation, Videoloop, 15’
Performance, Konzept, Schnitt: Belinda Kazeem-Kamiński
Kamera, Schnitt: Sunanda Mesquita
Sound, Licht, Schnitt: Nick Prokesch
Produktion, Regieassistenz: Liesa Kovacs
Bearbeitung und Übersetzung des Textes: Belinda Kazeem-Kamiński
Beitrag aus: Belinda Kazeem-Kamiński, Unearthing in Conversation (2017) In: Natalie Bayer, Belinda Kazeem-Kamiński und Nora Sternfeld: Kuratieren als antirassistische Praxis. Berlin/Boston: De Gruyter Layout, Covergestaltung und Satz: Renate Höllwarth, Seite 73-87.
Herzlichen Dank an Belinda Kazeem-Kamiński und Renate Höllwarth.
Belinda Kazeem-Kamiński ist Autorin und Künstlerin. Verwurzelt in Schwarzer feministischer Theorie, arbeitet sie mit einer recherchebasierten und prozessorientierten investigativen Praxis, welche sich mit Archiven – im Speziellen den Lücken und Leerstellen in öffentlichen Sammlungen und Archiven – auseinandersetzt. Mit der Verbindung von Dokumentarischem und Fiktionalem legt sie dabei die Gegenwärtigkeit einer andauernden kolonialen Vergangenheit frei.