Deutsch-Israelische Literaturtage 2019

Eröffnung

Es braucht die lauten Stimmen all jener, die eine Geschichte von Mut und Hoffnung und Zukunft erzählen. Eine Geschichte, die optimistischer ist, eine die komplexer und eine die bunter ist, als das völkisch-revisionistische Gelärme von rechts.

Dr. Ellen Ueberschär, Vorstand der Heinrich-Böll-Stiftung

Meine Damen und Herren, liebe Freundinnen und Freunde,

„Lauter, immer lauter?“ ist das Motto der Deutsch-Israelischen Literaturtage 2019. Es ist eine Frage, aber es klingt wie eine Zustandsbeschreibung der europäischen Debattenkultur. Wer poltert, der punktet. Und wer zu leise ist, geht unter. Muss es also immer lauter sein?

Für den Erfolg von Lärm gibt es in Europa derzeit genug Beispiele. Ein Innenminister in Italien, der mit Hetze gegen Migrantinnen und humanitäre Werte ein ganzes Land zugedröhnt hat. Ein nicht gewählter, polternder Premierminister in Großbritannien, der ein gewähltes Parlament und damit die demokratische Repräsentanz von 66 Millionen Britinnen und Briten zum Schweigen zu bringen versucht. 

Und auch in Österreich können wir seit Monaten das Drama des Populismus und der Polarisierung beobachten. Das nimmt hier schon unfreiwillig komische Züge an, wenn Ex-Kanzler Kurz und FPÖ-Rechtsaußen Kickl mit dem gleichen Wahlslogan für sich werben: "Einer, der unsere Sprache spricht.“ Um sich sogleich gegenseitig vorzuwerfen, den Spruch gestohlen zu haben, obwohl der eigentlich aus dem Österreich der Vergangenheit stammt: "Einer, der unsere Sprache spricht", behauptete 1999 schon der Wegbereiter der Rechten, Jörg Haider. Unsere Sprache – das heißt, alle, die nicht "unsere" Sprache sprechen, sind schon einmal per se ausgegrenzt, zum Schweigen gebracht, leise. Schon damals brachte der FPÖ-Übervater mit seinem Duktus und seiner Gangart, Menschen öffentlich zu diffamieren, eine neue Sprachkultur ins Parlament und in den öffentlichen Raum. Daran knüpfen viele an, die heute behaupten, „unsere Sprache“ zu sprechen.

In Österreich ist eine Normalisierung eingetreten, die uns als Warnzeichen dienen muss. Obwohl die FPÖ den Rahmen des Sagbaren ins Unerträgliche erweitert hat, findet sie trotz diverser Skandale ihrer Führungspersönlichkeiten auch weiterhin eine signifikante Unterstützung in der Bevölkerung.

Aber auch anderorts droht der Lärm, der alles Differenzierte übertönen und die leisen Töne zum Schweigen bringen will, die Gesellschaft zu spalten. Schauen wir nach Israel, ein Land im Dauerwahlkampfgetöse.

Im Kampf um sein Amt und seine Immunität bedient sich der Ministerpräsident einer klassischen Strategie des Populismus: Er poltert gegen „die herrschenden Eliten“, denen er selbst angehört und agitiert gegen einen vermeintlichen „Deep State“, den er zu Gunsten der Bevölkerung zerschlagen will. Zugleich schürt er Ängste in der Mehrheitsgesellschaft vor der arabisch-israelischen Minderheit, vor Migrantinnen, vor den Linken und den Liberalen. Deren Stimmen sollen leiser werden. Er pflegt enge Beziehungen zu populistischen Regierungschefs anderer Länder wie Victor Orban, Narendra Modi oder Donald Trump – ihr gemeinsamer Sound ist ungleich lauter.   

Netanjahu ist ohne Frage ein erfolgreicher, ein lauter Staatsmann und Außenpolitiker. Aber die drohenden Gerichtsverfahren gegen ihn belasten das politische System Israels. Wenn rechts-nationalistische Politiker/innen ihre Angriffe auf zentrale demokratische Institutionen im Wahlkampf verstärken und Gerichte und Medien systematisch delegitimiert werden, dann trifft dies letztlich vor allem die demokratische Zivilgesellschaft.

Die zwei kurz aufeinanderfolgenden Wahlkämpfe binden in Israel viel politische Energie. Die Folge ist eine Lähmung der Politik. Viele notwendige Debatten können in einem Klima der Polarisierung nicht geführt werden. Politische Reformen liegen auf Eis, denn der Wahlkampf nimmt quasi den gesamten öffentlichen Diskursraum ein. Deswegen freuen wir uns auf Sami Berdugos vielschichtige und feinfühlige Zustandsbeschreibung der israelischen Gesellschaft.   

Und auch hier in Deutschland ist der Lärmpegel gestiegen. In Sachsen haben fast ein Drittel, in Brandenburg fast ein Viertel der Wählerinnen und Wähler die AfD gewählt, obwohl der Brandenburgische Vorsitzende deutlich rechtsextreme Züge aufweist, dem sogenannten Flügel angehört und ohne menschenverachtende Provokationen in keiner Rede auskommt.

Ja, der Lärmpegel in unserer Demokratie ist gestiegen. Aber das Grundgesetz enthält keinen Aufruf dazu, dass Ruhe die erste Bürgerpflicht sei. Im Gegenteil. Demokratie ist eine Staatsform des Mitredens, des Kämpfens. Lassen wir uns vom Lärmpegel der Rechten nicht ablenken. Alle, die eine freie und offene Gesellschaft wollen, müssen auch laut sein. Wir dürfen nicht zulassen, dass uns der Lärm der Anderen lähmt. Wir dürfen nicht einstimmen in das kulturpessimistische Krisen-Gerede von rechts. Die Krise ist es, von der der Rechtspopulismus lebt. Dem müssen wir etwas entgegensetzen: Die Stimme erheben, wie es so schön heißt. Demokratinnen und Demokraten aller Couleur müssen laut sein, um für Demokratie und die Veränderbarkeit der Verhältnisse zum Besseren einzustehen. Klar und deutlich müssen tatsächliche Alternativen formuliert werden, damit der Status quo nicht alternativlos scheint.

Der Rechtspopulismus in Europa hat seinen Zenit erreicht, und ich wage zu behaupten, bereits überschritten. Das Chaos in Großbritannien zeigt: Das Laute allein führt nirgendwo hin, hat keine Lösungen. Tausende stehen auf, gehen auf die Straße, auf Demonstrationen, machen Lärm für die Demokratie. Hierzulande bricht etwas auf, junge Leute sind auf den Straßen für ihre Zukunft. Lauten, bunten Widerstand gibt es überall: Dresden ruft „Unteilbar“, Wien singt „We’re going to Ibiza“, London fordert: „Stop the Coup“ und Tel Aviv protestiert laut und deutlich – wir sind mehr und wir können lauter sein.

Das postpopulistische Zeitalter hat längst begonnen.

Die Lautstärke des Populismus steht in keinem Verhältnis zu seiner politischen Wirkung. Sie nutzt sich ab. Was dagegen wirkt, sind mutige und konstruktive Ideen. 

Es braucht die lauten Stimmen all jener, die eine Geschichte von Mut und Hoffnung und Zukunft erzählen. Eine Geschichte, die optimistischer ist, eine die komplexer und eine die bunter ist, als das völkisch-revisionistische Gelärme von rechts. Literatur ist das Medium der Stunde, laute und leise Töne, all die Zwischentöne zu beschreiben, die das Leben spielt. Literatur beweist, dass es nicht nur krachend-laut oder mucksmäuschenstill gibt, sondern dass auch eine Gesprächslautstärke möglich ist, in der viele Stimmen gehört werden können.

Gute Literatur zeigt Buch um Buch, wie wirkmächtig Sprache sein kann. Wir wissen, dass Sprache überwältigen kann – auch im positiven Sinn. Literatur kann helfen, die offensichtlichen Polarisierungen unserer Gesellschaften zu überbrücken. Genaues beschreiben, hinsehen und lesen, aber auch zuhören, reden, streiten. Das ist ein Angebot, dem Lautsein Paroli zu bieten. Wir glauben noch immer an das Wort.

Und deshalb freue ich mich sehr auf den heutigen Abend und möchte mich bedanken beim

  • Goethe-Institut für die gute und enge Kooperation über so viele Jahre
  • Beim Deutschen Theater für Kooperation als mittlerweile etablierter Spielort zur Eröffnung der DIL
  • Bei meinen Kollegen Christian Römer und Karin Lenski, die seitens der Heinrich-Böll-Stiftung diese Literaturtage so wunderbar organisiert haben
  • Und schließlich natürlich Priya Basil, Sami Berdugo und allen anderen Autorinnen und Autoren fürs Schreiben…..und Ihnen allen fürs Lesen!

Impressionen der Eröffnung

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