„Die Desillusionierung über Südafrikas Regierung drückte sich besonders deutlich im Wahlverhalten der jungen Leute aus. Es gab 1,8 Millionen erstmals Wahlberechtigte im Alter von 18 bis 19 Jahren, aber nur 341 186 ließen sich in die Wählerlisten eintragen. Dies bedeutete einen schroffen Rückgang von 47 Prozent gegenüber 2014...“
Dieser Artikel ist Teil unseres Dossiers Südafrika: 25 Jahre nach dem Ende der Apartheid.
In den Wochen vor den sechsten allgemeinen Wahlen in Südafrika standen Teile des Landes in Flammen. Für die Bürgerinnen und Bürger fühlte es sich an, als brächen die Fundamente der demokratischen Träume ihres Landes in Stücke.
In Durban dehnte die Bürgermeisterin vom ANC (African National Congress) ihre Vetternwirtschaft weiter aus und setzte unqualifizierte Leute auf die städtische Gehaltsliste, was die Arbeiter dazu brachte, auf die Straße zu gehen, nicht abgefahrenen Müll anzuzünden und Barrikaden zu bauen. Sie hatten von dem sich überall ausbreitenden Nepotismus genug, den die Politiker der Regierungspartei pflegten, um ihre regionale Machtbasis zu stärken und staatliche Ressourcen zur Selbstbereicherung zu plündern.
Alexandra, das verwahrloste Johannesburger Township, das sich direkt ans hochnoble Sandton anschmiegt, welches sich einiger der teuersten Immobilien auf dem ganzen Kontinent rühmen darf, wurde von den protestierenden Bewohnern dicht gemacht. Sie waren wütend über die wachsende Kriminalität und mangelnde Überwachung, das Staatsversagen bei der zugesagten Erneuerung und Weiterentwicklung und über die apartheidbedingte Verelendung, in der sie auch nach 1994 weiter leben mussten. Sie verbarrikadierten die Straßen mit solcher Entschlossenheit, dass die südafrikanische Menschenrechtskommission eine öffentliche Untersuchung darüber in Gang setzte, ob die Menschenrechte der Bewohner durch staatliche Unzulänglichkeiten und staatliches Versagen verletzt worden seien.
Auch in anderen Städten, Gemeinden und Provinzen gab es Proteste, dazu Drohungen, die Wahlen zu stören, und Aufrufe zur Wahlenthaltung. Die Wähler spürten am eigenen Leib die Realität dauernder Stromausfälle und von Abwässern, die ungehindert in die Trinkwasserquellen der Provinz Gauteng flossen, während Gemeinden in anderen Provinzen wochenlang ganz ohne Wasser blieben, ohne dass ihre kommunalen Behörden davon Kenntnis nahmen oder Maßnahmen dagegen ergriffen.
Das alles fiel zusammen mit der Endzeitvision eines „failing states“, eines scheiternden Staates. Die juristischen Kommissionen, die „state capture“ untersuchen, hörten täglich Berichte von Milliarden von Rand, die durch Kleptokraten, die in engem Kontakt mit dem früheren Staatspräsidenten Jacob Zuma standen, aus dem Staatsvermögen in staatseigene Unternehmen abgezweigt wurden. Diese Skandale waren jedoch nicht auf den regierenden ANC beschränkt. Auch Führer der EFF (Economic Freedom Fighters) spielten eine wesentliche Rolle bei der Ausplünderung der VBS Mutual, einer kleinen regionalstaatlichen Bank, die zusammenbrach, nachdem sie von ihren eigenen Vorstandsmitgliedern, Direktoren und mit ihr verbundenen Politikern all ihrer Holdings beraubt worden war.
Südafrika stellt sich zunehmend als ein Land dar, in dem die Regierung – egal, ob auf nationaler oder lokaler Ebene – nahe daran ist, überhaupt nicht mehr für das Wohl der Bürger zu arbeiten. Mit jedem neuen Skandal ist die Wählerschaft eines vom ANC regierten Staates immer überdrüssiger geworden, der, statt die sozioökonomische Gesamtentwicklung und die jedes einzelnen Bürgers zu fördern, diese eher behindert oder gar zerstört hat.
Bei den Wahlen von 2019 wurde diese Desillusionierung und Unzufriedenheit sowohl im fortlaufenden Stimmenverlust des ANC wie im Rückgang der Wahlbeteiligung sichtbar. Mit 57,51 Prozent der Stimmen bekam der ANC 4,64 Prozent weniger als noch 2014 und hat 12,18 Prozent verloren gegenüber dem Allzeithoch von 2004. Nach Angaben von Statistics South Africa und der Independent Electoral Commission haben sich von 35,86 Millionen Wahlberechtigten des Landes nur 26,75 Millionen (74,6 Prozent) in die Wählerlisten eintragen lassen. Von den registrierten Wählern gingen dann 9,1 Millionen nicht zur Wahl, was mit 65 Prozent im Jahr 2019 zur niedrigsten Wahlbeteiligung seit dem Ende der Apartheid führte.
Die Verluste in KZN
Die Wahl von 2019 erlebte den Wiederaufstieg der Inkatha Freedom Party in der Provinz KwaZulu-Natal (KZN), deren Stimmenanteil von 10,86 Prozent im Jahr 2014 auf 16,34 Prozent stieg. Die 54,22 Prozent des ANC, ein Stimmenverlust von fast 10 Prozent gegenüber 2014, zeugen von einer Wählerschaft, die durch die Skandale der Partei desillusioniert wurde. Einige ANC-Politiker und Regierungsbeamte waren in die politischen Morde verwickelt (und wurden angeklagt), die die Provinz im vergangenen Jahrzehnt verwüstet und über hundert Tote zurückgelassen haben. In KZN wird der Zerfall und das Versagen der Regierung besonders deutlich, und das Zuma-Projekt von Kleptokratie, Korruption, politischem Gangstertum und Mord scheint hier sein finales Stadium erreicht zu haben.
Während Zumas Anhänger sich erdreisten, die Stimmenverluste des ANC in der Provinz damit zu erklären, dass der frühere Präsident in der Wahlkampagne nur noch eine Nebenrolle spielte, haben die Wähler in Wahrheit durchaus einen klaren Blick für die schlimmsten Folgen seiner neunjährigen Amtszeit für ihr eigenes Leben, eine Periode, die Zumas Nachfolger, Cyril Ramaphosa, als „vergeudete“ Zeit beschrieben hat.
Wenn Ramaphosa nicht in der Lage ist, die Fäulnis zu bekämpfen, die sich in unterschiedlichem Ausmaß im ganzen Land ausgebreitet hat, wird der ANC in den lokalen Wahlen 2021 höchstwahrscheinlich weitere Stimmenverluste erleben.
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Wiederkehrender Rassismus
Auch ethnisch bedingte Animositäten und ethnisches Misstrauen nahmen im Laufe der Wahlkampagne zu und verschärften den Eindruck, dass Nelson Mandelas „Rainbow Nation“ zerfaserte und so schnell verschwand wie die Wahlplakate von den Straßenlaternen. Die ethnische Polarisierung hatte sich entlang solcher Streitpunkte vertieft wie dem vorgeschlagenen Verfassungszusatz für eine Neuverteilung des Bodens per entschädigungsloser Enteignung (was hauptsächlich weiße Südafrikaner betreffen würde) und der zunehmenden sozioökonomischen Ungleichheit, die die schwarze Bevölkerungsmehrheit zu spüren bekam.
Diese Probleme, insbesondere die Notwendigkeit der Bodenneuverteilung und die zunehmende Verarmung der schwarzen Südafrikaner, wurden populistisch-demagogisch durch die EFF mit ihren gegen Immigranten und Minderheiten gerichteten Aussagen genutzt, wodurch ihr Stimmenanteil von 6,35 Prozent 2014 auf 10,79 Prozent in diesem Jahr wuchs und der Partei 44 Parlamentssitze einbrachte.
Auf der anderen Seite des ethnischen Spektrums setzte die rechtsgerichtete Freedom Front Plus (FF+) populistische Angstmacherei ein, die auf die Bodenfrage und die künftige Rolle der Weißen im Land zielte, um ihren Stimmenanteil von 0,9 Prozent im Jahr 2014 auf 2,38 Prozent im Jahr 2019 (414 864 Stimmen) zu steigern, was ihr zehn Sitze im Parlament eintrug.
Im Widerspruch zur antirassistischen Vision, die von der Verfassung unterstützt wird, wächst das gegenseitige Misstrauen zwischen den Südafrikanern und Südafrikanerinnen aller Hautschattierungen. Die Wahlgewinne der EFF, der FF+ und der Inkatha Freedom Party bestätigen eine Verschiebung zu gesellschaftlichem Konservatismus und Neofaschismus im Land. Dieser besorgniserregende Trend wird Folgen für jede Gesetzesinitiative in Südafrikas sechstem Parlament haben und die oft emotionalen und simplifizierenden Debatten um ethnische Fragen, Einwanderung, die Bodenfrage und die wirtschaftliche Transformation weiter erhitzen.
#IWantToVoteBut
Die Desillusionierung über Südafrikas Regierung drückte sich besonders deutlich im Wahlverhalten der jungen Leute aus. Es gab 1,8 Millionen erstmals Wahlberechtigte im Alter von 18 bis 19 Jahren, aber nur 341 186 ließen sich in die Wählerlisten eintragen. Dies bedeutete einen schroffen Rückgang von 47 Prozent gegenüber 2014, als sich 646 313 junge Leute hatten registrieren lassen. Viele junge Leute aus den Städten trugen ihre Unzufriedenheit in die sozialen Medien, wobei in den Tagen vor dem 8. Mai der Hashtag #IWantToVoteBut auf Twitter den Trend setzte.
Diese Generation hat die Unfähigkeit der Regierung am eigenen Leib erfahren, eine gute Ausbildung zu garantieren, die ihr den Weg zu Jobs, Anerkennung und Karrieren bahnen könnte. Sie lehnt Handlangerarbeiten wie Müll einsammeln oder rote Flaggen bei Straßenbauarbeiten schwenken ab, welche die einzigen „Arbeitsplatzangebote“ bei dem großmäulig propagierten Extended Public Works Programme des ANC zu sein scheinen. Von diesen Jobs abgesehen, sind etwa 3 Millionen der unter Dreißigjährigen in Südafrika arbeitslos. Von den unter Dreißigjährigen insgesamt haben geschätzt 6 Millionen nicht gewählt.
Kann der ANC Reform?
Den ANC aufzuräumen und zu reformieren, ist die heutige Entsprechung zum Ausmisten des Augiasstalls in der Antike. Mit einer geschrumpften Mehrheit und einer in sich zerstrittenen Partei wird es für Präsident Cyril Ramaphosa herkulischer Anstrengungen bedürfen, in seiner Partei eine Reformagenda durchzusetzen, um Wähler für den ANC zurückzugewinnen und das Vertrauen der Öffentlichkeit darin wiederherzustellen, dass die Regierung in der Lage ist zum Wohl ihrer Bürger zu arbeiten.
Kaum war die Stimmenauszählung beendet, gingen sich ANC-Führer wie der Generalsekretär Ace Magashule und der Wahlkampfmanager Fikile Mbalula gegenseitig an die Kehle. Der skandalumwitterte Magashule steht für einen Flügel in der Partei, der weiterhin Zuma unterstützt, weil er von seinem jahrelangen Amtsmissbrauch und seiner Misswirtschaft profitiert hat und den Reformstrebungen des Flügels um Ramaphosa ablehnend gegenübersteht. Für viele könnte außerdem die Aufdeckung von Korruption Einkommensverluste und mögliche Gefängnisstrafen nach sich ziehen.
Magashule argumentierte, es sei nicht Ramaphosas Popularität gewesen, die die Partei davor bewahrt hätte, noch mehr Stimmen zu verlieren – obwohl das Gegenteil offensichtlich ist, das Faktum eingeschlossen, dass Nichtstammwähler des ANC der Partei ihre Stimme gegeben haben in der Hoffnung, deren Führer könne die notwendigen parteiinternen Reformen zur Eliminierung der Korruption durchführen. Ein Vergleich zwischen den landesweiten und den regionalen Abstimmungsmustern zeigt, dass die Beliebtheit der Partei bei ihren Stammwählern zwar abnimmt, die entweder aus Verärgerung zu Hause blieben oder ein Kreuz bei Oppositionsparteien wie den EFF oder der DA (Democratic Alliance) machten, dass aber Ramaphosa persönlich nach wie vor beliebt ist, insbesondere bei den Südafrikanern der Mittelklasse.
Bis heute hat sich Ramaphosa allerdings so zaghaft an die in Korruptionsfälle verwickelten Parteimitglieder herangewagt, dass es scheint, er wolle das Problem eher mit Samthandschuhen als mit eiserner Faust angehen. 2018 hat er einige davon sogar in seinem ersten Kabinett behalten, nachdem der Parteivorstand Zuma aus dem Amt abberufen hatte. Die Liste der Ministerpräsidenten, die jetzt für die einzelnen Provinzen vorgesehen sind, zeugt vom fortgesetzten Bemühen, die Opposition im ANC so klein wie möglich zu halten, während gleichzeitig das strukturelle politische Problem sich verschärfen wird, Partei- und Regierungsämter miteinander zu verquicken. Die Machtkonsolidierung der Parteibosse auf der Regional- und Provinzebene über Patronagesysteme, die den Staat aussaugen, wird sich fortsetzen.
Alles in allem, verheißt der Blick von unten auf die Wahlen von 2019 nichts Gutes für die Vision der südafrikanischen Verfassung von einer gleichen und nicht rassistischen Gesellschaft, in der jeder sein menschliches Potential vollständig entwickeln kann.
Dieser Artikel ist Teil unseres Dossiers Südafrika: 25 Jahre nach dem Ende der Apartheid.
Weitere Informationen im Dossier #SOUTHAFRICADECIDED.