Kübra Gümüşay gibt im Rahmen von "Was zu tun ist - Für einen modernen Feminismus", einer Veranstaltung der Heinrich Böll Stiftung Sachsen am 12. Dezember, fünf Handlungsempfehlungen für einen modernen Feminismus.
Kübra Gümüşay hat die Thesen für die Veranstaltung "Was zu tun ist - Für einen modernen Feminismus" am 12. Dezember im Rahmen der Reihe "Was zu tun ist" der Heinrich Böll Stiftung Sachsen geschrieben.
5 Handlungsempfehlungen (und Thesen) für einen modernen Feminismus
1. Menschen aufwecken.
Die zentrale Frage stellt hier Margarete Stokowski ganz beiläufig in ihrem Buch „Untenrum frei“, wo sie beschreibt, was sie auf Menschen antwortet, die sie fragen: „Wozu braucht man heute überhaupt noch Feminismus?“ Und damit meinen: Es sei doch alles in Ordnung, so wie es gerade ist. Ihre Antwort lautet:
Wenn du glaubst, dass wir keinen Feminismus mehr brauchen, heißt das, du glaubst, das hier ist der Endzustand? Der Rest ist irgendwie natürlich, und göttlicher Wille bedingt die sieben Prozent Lohnunterschied, weil sieben eine heilige Zahl ist? Ist es denkbar und wünschenswert, dass die Art, wie wir heute leben, das abschließende Ergebnis aller Kämpfe und Diskussionen um Gleichberechtigung ist? Ich glaube nicht. Ich will nicht, dass Olympe de Gouge ihren Kopf dafür hergeben musste, dass wir uns heute umschauen und sagen: Mehr geht nicht. Wir würden damit alle verarschen, die uns hierhergebracht haben, und ich verarsche nicht gern Menschen, die etwas für mich getan haben.
Das ist nämlich die zentrale Frage: Ist das der Endzustand? Oder geht es noch gerechter in unserer Gesellschaft?
So stehen u.a. engagierte Feminist_innen derzeit vor denjenigen, die keinerlei Bedarf darin sehen in einer gerechteren Gesellschaft zu leben, und denjenigen, die ihnen mit Hass und Häme begegnen, weil sie es wagen, den status quo in Frage zu stellen.
Es gilt also, Menschen aufzuwecken.
David Foster Wallace erzählte 2005 diese Geschichte bei einer Abschlussrede:
Zwei junge Fische begegnen einem weisen Fisch, der sie fragt „Wie ist das Wasser?“ Die beiden jungen Fische schwimmen ein wenig weiter und schließlich schaut der eine den anderen an und fragt: „Was zum Teufel ist Wasser?“
Wir müssen lernen, unsere Gesellschaft zu erfassen. Zu sehen. Die Strukturen wahrzunehmen.
Und uns bewusst zu sein, dass sie sich wandeln können. Ein Bewusstesein für die Wandelbarkeit zu entwickeln, die uns ermächtigen kann, die Welt zu verändern. Zu einer besseren zu machen. Aber genauso bewusst zu sein, dass die Extremisten, die Faschisten, Islamisten, Rechten und Hasserfüllten dieser Zeit, sich der Wandelbarkeit genauso bewusst sind.
Wer Dinge - Menschenrechte, Freiheit, Anstand, Empathie, Werte - für selbstverständlich glaubt und deshalb nicht mehr für sie kämpft, hat verloren.
2. Der moderne Feminismus muss intersektional sein.
Denn keine Diskriminierungsform lässt sich nachhaltig mindern, wenn andere nicht berücksichtigt werden – denn wir leben nicht in einer monokausalen Welt mit monokausalen Zusammenhängen. Intersektionalität ist der Anspruch, im Idealfall auch gegen andere Diskriminierungsformen aktiv zu arbeiten, mindestens aber diese nicht zu reproduzieren.
Denn die Verantwortung gegen Vorurteile und Ressentiments zu arbeiten liegt nicht bei den Betroffenen, sondern bei der gesamten Gesellschaft. Wo kämen wir hin, wenn nur Juden gegen Antisemitismus, nur Schwarze Menschen gegen Rassismus und Homosexuelle gegen Homofeindlichkeit arbeiten würden?
Doch nicht jede Feminist_in kann auch in der gleichen Intensität beispielsweise gegen Rassismus arbeiten wie gegen Sexismus. Aber sie kann an sich den Anspruch stellen, zumindest den Rassismus nicht zu reproduzieren.
Im Idealfall schultern wir alle gemeinsam die Verantwortung: Der Integrationsbeauftragte achtet darauf, dass es am Ende kein all male panel wird, wenn er die nächste Veranstaltung konzipiert. Die Gleichstellungsbeauftragte achtet bei ihrer Veranstaltung auf die ethnische Vielfalt.
Konkret heißt das für Organisationen und Institutionen: Wer sitzt mit am Tisch der Entscheidungen? Und wer nicht? Weshalb ist die Vielfalt der Gesellschaft hier nicht widerspiegelt? An welchen Strukturen innerhalb der Insitutionen kann dies liegen? Weshalb sind nicht mehr Alleinerziehende, Menschen mit Behinderung oder Migrationshintergrund in der Organisation nicht vertreten? Womöglich braucht es eine Quote? Mindestens aber eine Auseinandersetzung mit der Frage: welche unserer Strukturen verhindert ihre Anwesenheit?
Konkret heißt das für Einzelpersonen: Mit welchen Menschen umgebe ich mich? Wird die Vielfalt der Gesellschaft in meinem Umfeld widerspiegelt? Und dann: Aktiv ändern. Mit Menschen anfreunden, die andere Lebensrealitäten haben. Oder auch: Pass the Mic. Pass the mic heißt, wenn Sie die Gelegenheit haben, lassen Sie Minderheiten für sich sprechen. Oder Sie fragen sie, wie Sie sie darin unterstützen können, für sich zu sprechen. Und wenn Sie Räume betreten zu denen jene keinen Zugang haben, versuchen Sie sie zu berücksichtigen.
Aber sprechen Sie nicht an ihrer Stelle über sie - ohne ihre Interessen tatsächlich zu vertreten.
3. Agieren statt Reagieren: Eine feministische Agenda.
Unsere gesellschaftspolitische Agenda wird seit einigen Jahren vor allem durch die Themensetzung rechter und rechtskonservativer Gruppierungen dominiert. Ihre Sorgen, ihre Ängste, sind Thema der Gesamtgesellschaft. Rassistische, sexistische, antisemitische, islamfeindliche Aussagen und Positionen werden „sagbar“ - überhaupt gibt es eine grobe Verschiebung des „Sagbaren.“ Diese Verschiebung geht mit Hass und Hetze einher. Insbesondere Frauen und Personen of color werden besonders oft Zielscheibe dieser Gruppierungen.
In den vergangenen Jahren haben diese Provokationen, der Hass und auch die Hetze, einerseits eine Lähmung, andererseits auch eine permanente, erschöpfende Reaktion zur Folge gehabt. Wir sind erschöpft vom Empören. Vom Reagieren.
Statt der Agenda der rechten, antifeministischen Gruppen hinterherzuhecheln, braucht es eine eigene Agenda. Eine klare feministische. Und das kann bedeuten: Parität in der Politik. Quote. Das bedingungslose Grundeinkommen. Gesundheitsreform. Oder Rentenform. Oder eine neue Außenpolitik.
Die feministische Agenda kann eine grundsätzliche sein. Sollte sie sein.
Wie kommen wir dahin? Punkt 4:
4. Wir brauchen feministische Utopien!
Es ist leicht zu kritisieren, was schief läuft. Sich anzuschauen, was besteht und nach Fehlern und Makeln im System zu suchen. Einerseits weil es zuhauf Fehler und Makel, Ungerechtigkeiten und Unterdrückung in unserem gesellschaftlichen System gibt. Andererseits aber auch, weil die Suche nach Fehlern dem Menschen leichter fällt, als selbst etwas in die Mitte der gesellschaftlichen Debatte zu stellen. Einen Gegenvorschlag zu machen. Sich damit also angreifbar zu machen für Menschen, die nach Fehlern an anderen suchen.
Doch damit der moderne Feminismus nachhaltig sein kann, braucht es Räume, in denen wir uns Fragen stellen, wie: Wie sähe eine Welt ohne Sexismus und Rassismus aus? Wie sähe eine solche Utopie aus? Und was für dystopische Elemente gibt es womöglich in dieser Utopie? Was lernen wir daraus für unsere Gegenwart und unsere Zukunft? Wie können wir daraus Schritte ableiten, die über eine Kritik an der gegenwärtigen gesellschaftlichen Situation hinausgehen - hin zu konkreten Handlungsempfehlungen.
Warum braucht es diese? Weil zu kritisieren bedeutet, keine Verantwortung zu übernehmen. Nicht Handelnde, sondern Zuschauende zu sein. Um Handelnde, Gestaltende, Machende zu sein, müssen wir diese Verantwortung schultern. Utopien ausmalen, Handlungsempfehlungen aussprechen, uns angreifbar machen.
Konkret heißt das: Raum schaffen, in denen laut gedacht werden kann, unterschiedliche Positionen eingenommen werden können und gemeinsam in die Zukunft geblickt werden kann. Trotz der Dringlichkeit aktueller Ereignisse, sich den Raum zu nehmen, Visionen zu formulieren.
5. Wir brauchen Wohlwollen füreinander.
Im Netz und auch anderswo - in Kreisen, die sich als Teil der antirassistischen, feministischen Diskurse begreifen, aber auch gesamtgesellschaftlich - eine Kultur dominieren, deren einziges sinnstiftendes Element die Suche nach Fehlern an anderen. Die Kritik, die Häme an anderen ist zur digitalen Währung verkommen – damit steigt die Prominenz, darüber profiliert man sich. Wie schnell können wir im verdammen anderer Personen sein? Wie geschickt können wir Menschen diffamieren? Wie gekonnt Menschen digital abschießen, uns moralisch über sie stellen und von unserer erhobenen Tastatur aus auf die Menschen herabblicken, die wir mit unseren Worten treten?
Es braucht Wohlwollen. Wohlwollen für diejenigen Menschen, die sich den gleichen Werten verschrieben haben wie man selbst. Wohlwollendes Diskutieren. Kritisieren. Streiten.
Denn wer wohlwollend kritisiert, der öffnet dem Gegenüber eine Tür für Besserung. Wir sind Menschen. Wir werden Fehler machen, jeden Tag, mehrere zugleich. Wir werden verletzen und werden verletzt werden. Rassistisches, homofeindliches, sexistisches, transfeindliches, antisemitisches, ableistisches und was weiß ich was, was wir alles sagen oder tun werden. Hoffentlich unbeabsichtigt. Und mit der Absicht zu lernen.
Der Weg ist das Ziel – denn das Ziel: Eine tatsächlich geschlechtergerechte, inklusive Gesellschaft frei von Diskriminierung und Extremismus jeglicher Art werden wir nicht in naher Zukunft erreichen – und um ehrlich zu sein, ich habe mich auch damit abgefunden, dass es auch zu Lebzeiten nicht klappen wird.
Denn letztlich ist es doch so: Niemand ist die perfekte Feminist_in. Niemand schafft in seinem eigenen Leben, zu jeder Sekunde des Alltags gegen alle diskriminierenden Strukturen sich zu wehren, zu kämpfen – all diese Ideale umzusetzen. Denn sie sind „Ideale“. Jede Handlung, die wir vollziehen, ist ein Kompromiss zwischen unseren Idealen und der Realität, in der wir uns befinden.
Anders können wir nicht handeln.
Niemand ist perfekt. Es gibt Menschen, die sind konsequenter. Vielleicht weil sie stärker, mutiger sind. Oder weil sie privilegierter sind. Weil sie bestimmte andere Kämpfe nicht austragen müssen.
Manchmal tut es auch einfach gut, einzusehen, dass man kein personifiziertes Ideal ist. Dass man das Unmögliche versucht und jeden Tag ein bisschen Erfolg hat, aber auch immer ein bisschen scheitert.
Am schönsten formulierte es die Feministin und Intellektuelle Roxane Gay in ihrem Buch „Bad Feminist“:
“I embrace the label of bad feminist because I am human. I am messy. I’m not trying to be an example. I am not trying to be perfect. I am not trying to say I have all the answers. I am not trying to say I’m right. I am just trying—trying to support what I believe in, trying to do some good in this world, trying to make some noise with my writing while also being myself.”
Wir versuchen alle. Wir geben unser Bestes. Und das Beste muss manchmal auch genug sein dürfen.
Lasst uns Ansprüche haben. Erwartungen aneinander. Lasst uns auf diesem Weg lernen. Einander zuhören und sprechen lassen. Lasst uns bewegen. Aus uns heraus wachsen. Lasst uns die Herausforderungen dieser Gesellschaft annehmen. Und während wir dabei unser Bestens geben, einander wohlwollend, gutmütig sein.
Roxane Gay sagte auch: “I would rather be a bad feminist than no feminist at all.“
Konkret heißt das für Organisationen und Insitutionen: Einerseits Ideale explizit formulieren und genauso explizit eine Fehlerkultur erlauben, sodass Wachstum und Entwicklung innerhalb der Institutionen überhaupt nachhaltig geschehen können.
Konkret heißt das für Einzelpersonen: Mut haben, Ideale zu formulieren. Und ganz besonderen Mut haben, diese auch zu leben. Also zu scheitern.
Kübra Gümüşay, Autorin und Aktivistin, schreibt und referiert zu den Themen Internet, Politik, Feminismus, Rassismus und Islam. Sie ist u.a. Co-Gründerin der Kampagne #SchauHin gegen Alltagsrassismus, des feministischen #Ausnahmslos-Bündnisses gegen sexualisierte Gewalt und Rassismus, sowie Initiatorin der Kampagne #OrganisierteLiebe für mehr Liebe, Wohlwollen und gesunde Streitkultur im Netz. Ihr Blog ein-fremdwoerterbuch.com wurde 2011 für den Grimme Online Award nominiert. Das Magazin Forbes zählte sie 2018 zu den Top 30 unter 30 in Europa im Bereich Media und Marketing.