Weltweit geraten Menschenrechte in die Defensive. Dennoch gibt es keinen Grund zu verzagen. Trotz aller Rückschritte und unübersehbarer Mängel läuft der Schutz von Menschenrechten lokal wie global auf Hochtouren. Ein Text aus unserem Magazin Böll.Thema 1/2016.
Überall gibt es engagierte Menschen, die sich für ihre Rechte und die Rechte anderer einsetzen – und vielerorts finden sich Personen und Organisationen, die sie dabei solidarisch unterstützen. Gerade das Zusammenwirken zivilgesellschaftlicher Gruppen, staatlicher Akteure und internationaler Menschenrechtsinstitutionen über alle Landesgrenzen hinweg hat sich als wichtig erwiesen, um Menschenrechte zu schützen und umzusetzen. Doch Autokraten haben Gegenstrategien entwickelt und versuchen, nationales wie transnationales Handeln für die Menschenrechte zu unterbinden. Solchen Versuchen gilt es energisch entgegenzutreten.
Verankerung der Menschenrechte
Mit der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte von 1948 sowie dem UN-Zivilpakt und dem UN-Sozialpakt von 1966, deren 50-jähriges Bestehen in diesem Jahr gefeiert wird, wurden wesentliche Schritte getan, die Menschenrechte im Völkerrecht zu verankern. Doch mit ihnen war die Entwicklung noch längst nicht beendet. Vielmehr wurden die dort verankerten Menschenrechte in weiteren UN-Menschenrechtsabkommen inhaltlich differenziert und für einzelne, besonders gefährdete Bevölkerungsgruppen weiterentwickelt (Frauen, Kinder, Menschen mit Behinderung etc.).
Gerade auch von den jüngeren Abkommen gehen wichtige Impulse aus. So hat etwa das Inklusionskonzept der UN-Behindertenrechtskonvention von 2006 (seit 2008 in Kraft) das allgemeine Verständnis von Menschenrechten nachhaltig beeinflusst. Statt zu fordern, dass behinderte (oder andere benachteiligte) Menschen sich an gesellschaftliche Bedingungen anpassen, fordert Inklusion, die Lebensbereiche so zu verändern, dass alle Menschen von vornherein und selbstverständlich einbezogen sind. Die «Verschwundenen»-Konvention von 2006 (seit 2010 in Kraft) wiederum explizierte und erweiterte ganz erheblich die Rechte der Opfer von Menschenrechtsverletzungen.
Das Bild einer sich verdichtenden Normsetzung auf UN-Ebene wird verstärkt durch Forderungen nach weiteren Instrumenten, etwa für ältere Menschen, LGBTI-Personen oder für Kleinbäuerinnen und Kleinbauern. Der UN-Menschenrechtsrat setzte 2012 eine Arbeitsgruppe ein, die eine «UN Declaration on the Rights of Peasants and Other People Working in Rural Areas» verhandelt. Auch auf regionaler Ebene ist viel geschehen: Im Jahr 2014 trat im Rahmen des Europarates beispielsweise ein Übereinkommen von 2011 in Kraft, das Gewalt gegen Frauen und häusliche Gewalt (Istanbul-Konvention) verhüten und bekämpfen soll. Selbst im asiatischen Raum, wo noch kein eigenständiger regionaler Menschenrechtsschutz besteht, verabschiedeten die ASEAN-Staaten im November 2012 eine neue Menschenrechtserklärung.
Zeitgemäße Interpretation
Viele völkerrechtliche und politische Debatten kreisen gegenwärtig jedoch weniger darum, welche neuen Menschenrechte festgeschrieben werden könnten. Eher wird darüber diskutiert, wie bereits bestehende zeitgemäß interpretiert werden sollen. So beinhaltet der Kampf um die Menschenrechte immer auch eine Auseinandersetzung darüber, wie sie auszulegen sind. Ein griffiges Beispiel sind die wirtschaftlichen, sozialen und kulturellen Menschenrechte, die in den vergangenen 20 Jahren erheblichen Auftrieb erfahren haben. Diese «wsk-Rechte» sind heute aus dem Menschenrechtsdiskurs nicht mehr wegzudenken. Geändert haben sich, um weitere Beispiele zu nennen, zudem das Verständnis von Diskriminierung oder die menschenrechtliche Bewertung von häuslicher Gewalt gegen Frauen und Kinder. Auch die Gefahren neuer Kommunikations- und Überwachungstechnologien für das Recht auf Privatsphäre werden zusehends erkannt.
Auch das Verständnis davon, wer Träger der Menschenrechte sind und wen die Menschenrechte auf welche Weise verpflichten, wandelt sich. Neben Individualrechten werden mitunter auch Gruppenrechte eingefordert, etwa von indigenen Gruppen. Diese können sich hierbei nicht nur unter anderem auf die UN-Erklärung zu indigenen Rechten von 2007 berufen; auch die Spruchpraxis regionaler und nationaler Gerichte verändert sich mehr und mehr in diese Richtung.
Ferner wird zusehends akzeptiert, dass Staaten über die Landesgrenzen hinaus Verantwortung für den Schutz der Menschenrechte haben; demgemäß hat die Diskussion über «extraterritoriale Staatenpflichten» Fahrt aufgenommen. Vorangetrieben durch die UN-Leitprinzipien Menschenrechte und Wirtschaft von 2011 wächst zudem bei den Regierungen allmählich das Bewusstsein, dass auch Wirtschaftsunternehmen für Folgen ihres Handelns in Bezug auf die Menschenrechte verantwortlich sind. In über 30 Staaten wurden oder werden gegenwärtig entsprechende Nationale Aktionspläne entwickelt, die an den UN-Leitprinzipien ansetzen: Verbindliche Regeln für Unternehmen stoßen aber nach wie vor auf große Widerstände seitens Politik und Wirtschaft.
Die historische Offenheit, die Menschenrechte weiterzuentwickeln, bedeutet wohlgemerkt nicht Beliebigkeit; Neuerungen müssen sich inhaltlich-systematisch in das Gefüge des bestehenden Menschenrechtsschutzes einbetten. Angesichts neuer Erfahrungen von Unrecht und sich rasch ändernder Lebensbedingungen werden aber auch künftig Menschenrechte neu entstehen und neu interpretiert werden (müssen), schon gar angesichts der offenkundigen Lücken im Menschenrechtsschutz. Die Impulse gehen dabei nicht unbedingt vom reichen Norden aus; sie entstehen auch in den Ländern des globalen Südens. Dabei ist mit massiven Widerständen und Rückschritten zu rechnen. Die Entwicklung der Menschenrechte verläuft weder geradlinig noch überall gleich. Auch gibt es stets Versuche, Erreichtes rückgängig zu machen. Menschenrechte müssen daher ständig aufs Neue verteidigt, eingefordert und erstritten werden.
Durchsetzung gegen Widerstände
Bei allen Fortschritten der Normsetzung und -interpretation liegt die Umsetzung der Menschenrechte offenkundig im Argen. Dies ist nicht nur der Schwäche internationaler Menschenrechtsinstitutionen geschuldet, die zwar Erwartungen formulieren, aber menschenrechtskonformes Verhalten kaum erzwingen können. Viele Regierungen sind schlicht nicht willens oder fähig, die Menschenrechte angemessen zu achten, zu schützen und zu gewährleisten. Vielerorts werden diese sogar grob verletzt und Menschenrechtsverteidiger/innen diffamiert, behindert, kriminalisiert und verfolgt. Zusehends schränken Regierungen die Meinungs-, Versammlungs- und Vereinigungsfreiheit ein, um eine kritische Zivilgesellschaft zum Verstummen zu bringen.
«Shrinking political space for civil society» heißt das Phänomen, das mit weltweiten Re-Autorisierungstendenzen einhergeht. Autoritäre Herrschaftspraktiken sind auf dem Vormarsch und werden mitunter unverblümt beworben. Selbst Europa ist davor nicht gefeit, wie die Entwicklungen in Ungarn und Polen zeigen. Dies stellt nicht nur die Menschenrechtsarbeit vor Ort, sondern auch die solidarische Unterstützung aus dem Ausland vor große Herausforderungen. Nicht selten werden Menschenrechtsaktivist/innen als «Vaterlandsverräter», «ausländische Agenten» oder gar als «Terroristen» diffamiert, und Regierungen wehren sich rigoros gegen Einmischung von außen.
Umso wichtiger ist es, nicht vor Autokraten einzuknicken und all jene Akteure und Institutionen vor Ort zu stärken, die sich für die Menschenrechte einsetzen. Hier stellt sich die Frage, ob demokratische Regierungen tatsächlich das menschenrechtlich Machbare ausloten und ausschöpfen. Oder ob sie aus sicherheits-, wirtschafts- und migrationspolitischen Erwägungen heraus sich nicht allzu leicht mit autokratischen Herrschern arrangieren – oder sogar selbst die Menschenrechte verletzen.
Der «EU-Türkei-Deal» von März 2016 und ähnliche Absprachen mit afrikanischen Staaten in Flüchtlingsfragen werfen beispielsweise massive menschenrechtliche Probleme auf. Um glaubhaft für Menschenrechte einzutreten, ist es aber unabdingbar, dass demokratische Rechtsstaaten diese selbst sorgsam achten und umsetzen. Eine Flüchtlingspolitik, die auf den Menschenrechten basiert, fällt ebenso darunter wie die Aufgabe, den alltäglichen Rassismus zu bekämpfen. Rassistische Gewalt und Hetze nehmen zu, und das ist ein gewaltiges gesellschaftspolitisches Problem in Europa. Um dessen Herr zu werden, brauchen wir entschiedenes politisches Handeln und eine wachsame Zivilgesellschaft.
Dieser Text erschien in unserem Magazin Böll.Thema 1/2016.